19. Kapitel - Wahrheiten und Ehrlichkeit

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Schweigend öffnete mein Vater die Tür zu unserem Haus und ich ging direkt auf mein Zimmer. Diese halbe Stunde im Haus meines Onkels war zu viel. Ich wollte nicht darüber nachdenken, doch mein Kopf konnte nicht aufhören, zu grübeln. Es war doch immer so, hatte ich den Eindruck es wird jetzt ruhiger, kommt der nächste Rückschlag mit Informationen, die ich so nie haben wollte.
Meine Mutter und Onkel Peter? Wann war das gewesen? Vor meiner Zeit oder gab es mich schon? Warum blieb Papa bei ihr? Ich hatte so viele Fragen, dass ich das Gefühl hatte mein Kopf würde jeden Moment zu platzen drohen. Ich spürte eine Unruhe in mir, die ich loswerden wollte. Früher hätte ich mir meine Basketball Sachen genommenen und wäre spielen gegangen, bis ich völlig entkräftet war. Aber mir war heute gar nicht danach. Ich fühlte mich wie gelähmt, als hätte ich absolut alle Kräfte bereits verbraucht. Ich spürte eine Leere in mir, es fühlte sich an, als wäre ich unvollständig.
Mein Handy meldete sich mit einer leichten Vibration zu Wort. Fiona hatte mir geschrieben. Ich wischte die Nachricht weg und setzte mich auf mein Bett.

Es klopfte zaghaft an meiner Tür und mein Vater betrat das Zimmer.
Er setzte sich ohne ein Wort zu sagen neben mich. Ich spürte, dass er versuchte das zu ändern, aber die Worte nicht fand. Er druckste herum, blieb dann aber doch still. Bis er mich einfach in den Arm nahm. Ich spannte mich automatisch an und war damit überfordert, stieß ihn jedoch nicht weg. „Weißt du...“, begann er. „Alles was ich, wir, immer wollten war, dich zu schützen. Wir wollten nicht, dass dieses Drama unsere Familie zerstören konnte. Aber ich fürchte Geheimnisse haben mehr Macht, als Wahrheiten und Ehrlichkeit.“ Ich blickte ihm in die Augen. Sie hatten ihren Glanz verloren, seine Schultern ließ er hängen. Ich sah ihn einfach an. Eigentlich war ich immer der Annahme, mich könne nichts mehr schocken. Dass ich die Hälfte meines Lebens bei Peter verbracht hatte, dass meine Schwester starb, die eiseskälte meiner Mutter gegenüber mir, all das hatte ich als so schmerzhaft empfunden, dass ich der Annahme war es gäbe nichts, was das steigern würde. Doch ich war mir nun sicher, dass diese Annahme sich nicht bestätigen würde.
„Deine Mutter... naja sie hatte eine schwere Zeit. Wir haben, bevor du kamst, lange versucht ein Kind zu bekommen. Es wollte nie klappen, wir gingen beide anders damit um und irgendwann waren wir uns irgendwie fremd geworden. Jeder machte sein eigenes Ding und mit Peter... Mit Peter schien sie all diese Sorgen vergessen zu können.“, er unterbrach sich selbst und starrte aus dem Fenster. Mir war klar, dass er sich Vorwürfe machte. „Ich wusste anfangs nichts davon. Ich dachte, sie würde sich eben gut mit Kate verstehen, jedenfalls war das das, was sie mir immer erzählt hatte. Bis sie eines Tages wieder mit dieser Ausrede verschwand und ich Kate dann mit ihren Freundinnen in einem Café getroffen habe, in welchem ich damals ein Bewerbungsgespräch hatte.“ Er stand auf, ging zu meinem Fenster, blickte einige Sekunden in den Garten der Nachbarn und setzte sich dann auf meinen Schreibtisch. „Ich dachte mir nichts dabei. Bis ich nach Hause kam und deine Mutter nicht da war. Natürlich hatte ich dann so meine Vermutungen, ganz auf den Kopf gefallen bin ich ja nicht. Sie kam irgendwann nach Hause und ich konfrontierte sie damit. Sie redete sich heraus und ich wollte nicht schon wieder streiten, also ließ ich sie einige Wochen einfach machen, saß untätig herum und kam mir mit jedem Tag noch erbärmlicher vor. Irgendwann kam sie nicht mehr nach Hause. Ich rief Peter an, doch da war sie nicht. Ich wurde nervös, konnte sie aber nicht erreichen.“ Er stand wieder auf, drehte sich zu meinem Schrank und starrte sein Spiegelbild an. Er schluckte schwer. „Sie war schwanger von ihm gewesen und war zur Abtreibung bei einer Frauenärztin. Das war auch noch der Tag, an dem ich meine Tasche packte und für mehrere Tage zu meiner Mutter zog. Mich hatte das sehr verletzt, bei uns hatte es nie geklappt, dann rennt sie zu meinem Bruder und Zack! Er macht ihr ein Kind...“ Noch immer starrte er sich selbst im Spiegel an, in seinem Blick Wut und Reue zugleich. „Sosehr das weh tat, ich liebte sie zu sehr, um sie zu verlassen. Weißt du Ema, die Jahre danach waren wirklich furchtbar und als ich begonnen hatte, ihr und auch Peter, komplett zu verzeihen, wurde deine Mutter wieder schwanger. Ich hatte schon aufgegeben und war natürlich misstrauisch, ob du wirklich mein Kind bist. Mamas Schwangerschaft war nicht die schönste Zeit, aber wir wollten dich beide haben und waren überglücklich, als du dann endlich zur Welt kamst. Deshalb bin ich immer geblieben. Ich liebe dich und deine Mutter viel zu sehr, um das kaputt zu machen.“, beendete er seinen Satz und sah von seinem Spiegelbild zu mir. Ich hatte Tränen in den Augen und es fühlte sich an, als würde sich mein Herz verkrampfen. Seine Worte hatten mich wütend gemacht und ich konnte ihm nicht glauben. Wenn sie doch so überglücklich waren, warum wurde ich dann weggegeben? Warum musste ich bei dem Mann leben, der es beinahe geschafft hatte, eine Ehe zu zerstören?
„Warum?“, fragte ich mit zittriger Stimme. „Warum hast du Peter verziehen? Warum habt ihr mich zu ihm geschickt? Warum habt ihr mich nie besucht, warum habt ihr mich einfach abgeschoben, als Charly so krank war? Ich scheine euch ja wohl doch nicht so glücklich gemacht zu haben!!“, sagte ich mit Tränen erstickter Stimme. Mein Vater wollte mich umarmen, doch ich sprang auf und schubste ihn weg. „Ihr wusstet die ganze Zeit, dass Peter nicht gerade zimperlich war! Mama hat gesagt er war gewalttätig gegenüber Kate! Warum tut ihr das dann eurem eigenen Kind an?!“
Mein Vater ging wieder einen Schritt auf mich zu, doch ich wollte seine Nähe nicht und wich zurück. „Ema, wir...“, sagte er sanft. Ich schlug seinen Arm weg, den er nach mir ausstreckte. „Nein!“, schrie ich zitternd vor Wut. Ich wollte ihm nicht mehr in die Augen sehen. „Geh!“
Er blieb stehen, eine Träne lief über seine Wange. „Bitte geh!!“, rief ich heiser.
Mit einem Seufzen öffnete er meine Tür und schloss sie leise hinter sich. Ich hörte ihn weinen und begann augenblicklich ebenfalls zu schluchzen.
Einige Zeit war Stille, bis ich meine Eltern unten laut diskutieren hörte. An der Stimme meines Vaters konnte ich erkennen, dass er noch immer weinte. Die laute Diskussion ging in einen heftigen Streit über, die Stimme meiner Mutter überschlug sich, mein Vater gab ihr schreiend Kontra. Geschirr ging zu Bruch, dann knallte die Haustür ins Schloss und es herrschte Stille. Quälende Stille, die einmal kurz durch den wütenden Schrei meines Vaters unterbrochen wurde und dann das Haus erfüllte.
Die Tränen liefen mir nur so über die Wangen, der Kopf schmerzte und alles stand so unter Druck, dass ich mir wiederholt auf die Oberschenkel schlug. Mit jedem Schlag wendete ich mehr Gewalt an, doch es wurde nicht besser. Mein Körper bebte und alles tat so furchtbar weh, dass ich krampfte, wimmerte und schluchzte. Das Leben war so unfair, nicht mehr lebenswert. Warum konnte es nicht einfach aufhören, weh zu tun. Ich wollte einfach nicht mehr diese Schmerzen spüren. Mich vollkommen fühlen, eine Hand zum Halten haben. Doch ich hatte niemanden, wusste nicht, wem ich vertrauen sollte. Mein ganzes Leben war bis hierher eine Lüge gewesen und ich wusste nicht, was ich noch glauben sollte und konnte.

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