44. Kapitel - Letzte Chance

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„Du musst selbst Hoffnung haben.", sagte der Arzt in der Notaufnahme, als er mich wieder zusammenflickte.
Ich wusste, dass er Recht hatte. Meine eigene Hoffnungslosigkeit fühlte sich aber so schützend an. Als würde sie sagen, ja du arme Maus, ich glaube dir. Ich glaube dir, wie weh es tut, wie schlimm es ist, wie aussichtslos es ist. Und niemand sonst schien mich bisher so zu verstehen. Natürlich konnte ich keine Hoffnung finden. Was wartete im Leben denn auf mich? Was hatte ich noch? Weder Eltern, noch Freunde, noch ein Zuhause.
Aber genug Selbstmitleid, ich war selbst Schuld, dass ich in dieser Position war. Das ungeliebte Kind. Hätte ich mich ein bisschen mehr bemüht, ein bisschen mehr angestrengt, dann wären meine Eltern vielleicht stolzer gewesen. Wäre ich gut in der Schule geblieben, hätte weiterhin Basketball gespielt und nie aufgehört zu essen oder angefangen mich selbst zu verletzen, dann wäre vielleicht alles anders. Oder, wenn ich einmal eine verdammte Klinik und Therapie durchziehen würde, ohne in großem Spektakel abzuhauen.
Ich bereute die Aktion der letzten Stunden und ließ die Verzweiflung zu, die sich mir ins Innere schlich. Vielleicht war sie ja zu etwas gut. Eine Art Tritt in den Hintern, oder so.

Der Chirurg hatte einiges zu tun, aber schlimmer verletzt hatte ich nichts. Alle Sehnen waren in Ordnung, ich war nur ein bisschen zu betrunken und schwach, um direkt in die Psychiatrie zu kommen. Deshalb wurde ich erstmal im Krankenhaus aufgenommen. Eine Aussage zu suizidalen Absichten machte ich nicht. Denn ich wusste es nicht und wollte nicht mehr lügen. Ich wollte mir helfen lassen, in der Hoffnung, dass es in diesem Leben noch etwas gab, was mich erfüllte. Einen Sinn, weshalb ich anfangen sollte, zu kämpfen.

Das Mittel gegen die Übelkeit hatte mich so müde gemacht, dass ich nichts davon mitbekam, wie ich auf ein Zimmer gebracht wurde. Als ich aufwachte, saßen Fiona und ihre Mutter in meinem Zimmer und unterhielten sich leise. Vor ihnen auf dem Tisch lag ein Stapel UNO Karten.
Sie bemerkten nicht, dass ich wach war. Da ich sie aber sowieso nicht verstehen konnte und mir wie ein Spion vorkam, machte ich mich durch ein Räuspern bemerkbar.
Sofort sprang Fiona auf und fiel mir um den Hals. „Du blöde Kuh!", entfuhr es ihr. Sie weinte in meine zerzausten Haare. Auch ihre Mutter war aufgestanden und nahm meine Hand. Vorsichtig streichelte sie mir mit dem Daumen um den Zugang herum. „Wir sind froh, dich wiederzusehen.", sagte sie sanft. Ich konnte den Schmerz in ihrem Blick erkennen.
Fiona krabbelte zu mir ins Bett und setzte sich im Schneidersitz neben meine Füße. „Ema, weißt du eigentlich, dass wir dich lieben wie ein Teil unserer Familie?", seufzte sie und hielt meinem fragenden Blick stand. „Wir wissen, dass wir dich nicht retten können. Aber wir können dich lieben. Wir würden alles für dich tun, wenn es dir auch nur ein bisschen hilft"
Ihre Worte brannten sich in mein Hirn, aber so richtig begreifen konnte ich sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht.
„Was passiert mit mir?", fragte ich vorsichtig.
Fionas Mutter atmete tief durch: „Deinen Platz in der Klinik hast du verloren. Nicht stabil genug. Aber das weißt du vermutlich selbst. Weil du nicht meine Tochter bist, habe ich aber auch nicht mehr Informationen bekommen. Deine Eltern sind informiert und wohl auf dem Weg hierher."
Meine Eltern waren auf dem Weg zu mir? Beide? Das konnte ich mir kaum vorstellen.
Aber in dem Moment klopfte es auch schon an die Tür und meine Eltern standen im Raum. Tatsächlich beide. Meine Mutter musterte kritisch Fiona und deren Mutter, bevor sie mir einen kurzen Blick schenkte. Mein Vater hatte sich bereits per Handschlag vorgestellt und zu mir gewandt. „Hi Em. Was machst du für Sachen.", sagte er müde. Weil ich vermutete, dass er darauf nicht wirklich eine Antwort von mir wollte, schwieg ich. Meine Arme waren dick verbunden, ein Zugang steckte mir in der Hand und ein Schlauch in der Nase. Ich glaubte, er wusste ganz gut, was das für Sachen waren, die ich machte.
Es klopfte erneut an der Tür und ein weißkitteliger Arzt betrat das Zimmer. Er sah zwischen meinen Eltern, Fiona und ihrer Mutter und mir hin und her. Schnell streckte meine Mutter ihm die Hand entgegen und stellte sich und meinen Vater vor.
Der Arzt bat meine Freundin und ihre Mutter den Raum zu verlassen. Sofort wurde ich angespannter und die Stimmung im Raum kühler.
„So, folgendes, Familie Nielson.", sprach der Arzt uns alle an. „Wir kommen hier um die bereits ergriffenen und noch folgenden Maßnahmen in der Behandlung von Ema nicht drumherum. Die Ernährung mittels Nasen-Magensonde wurde bereits begonnen. Die Mangelernährung ist zu massiv, um auf gute Mitarbeit seitens Ema zu hoffen und zu warten. Desweiteren ist mangels Absprachefähigkeit von Ema und Vertrauen des Ärzteteams, eine Behandlung in einer akutpsychiatrischen Einrichtung erforderlich. Eine offene psychiatrische oder psychosomatische Behandlung ist erstmal ausgeschlossen. Jetzt ist das Ganze hier ernst. Über die Behandlungsdauer kann ich hier in meiner Position nichts sagen. Das ist außerhalb meines Fachgebietes. Ein Bett in der Psychiatrie ist ab morgen frei. Die Verlegung würden wir gerne klinikintern übernehmen, es sei denn Sie als Eltern können versichern, Ema in nicht verschlechtertem Zustand zu überbringen."
Meine Mutter schüttelte energisch den Kopf. „Nein, nein! Dem Kind kann man ja nicht vertrauen. Das wäre uns klinikintern schon lieber.", erklärte sie.
Ich hörte mir das Spektakel an, als würde es gar nicht um mich gehen. Der Arzt nickte. „Herr und Frau Nielson, ich würde Sie dann bitten einmal mitzukommen und den Papierkram zu erledigen. Ema, nutz deine - vermutlich letzte - Chance.", damit war der Arzt bereits aus dem Zimmer draußen. Meine Eltern folgten ihm eilig und noch bevor die Tür ins Schloss fiel, betraten Fiona und ihre Mutter den Raum.
„Könnt ihr mich nicht einfach mit zu euch nehmen?", bat ich verzweifelt. „Die stecken mich in die geschlossene Psychiatrie, ich will da nicht hin!"
Fionas Mutter setzte sich an den Rand meines Bettes, während Fiona sich auf den Stuhl am Fenster setzte.
Der Blick von Fionas Mutter war ernst. „Das geht nicht. Du weißt, dass wir das sofort tun würden, aber Ema, in deinem Zustand geht das nicht. Du würdest in unseren Armen sterben. Das verstehst du, oder?"
Ich biss die Zähne zusammen. Nein, das verstand ich nicht. Wieso sollte ich sterben? Wäre ich erstmal dort, würde alles gut werden.
Ich fühlte mich verlassen. Allein gelassen. Hoffnungslos.
„Wir kommen dich, wann immer es geht, besuchen. Wir sind für dich da und wir werden Kontakt haben. Und unsere Tür steht immer für dich offen. Aber jetzt musst du erstmal zulassen, dass man dich rettet, ja?", Fionas Mutter drückte meine Hand fest. Ich drückte schwach zurück. „Wir denken an dich. Du bist stark!", verabschiedeten sich die beiden, bevor sie das Zimmer wieder verließen und die Stille über mich hereinbrach.
Ich wollte doch nur weg von hier. Weg von weißen Wänden, Desinfektionsmitteln und Ärzten. In meinem eigenen Bett aufwachen, meinen Alltag selbst bestimmen und glücklich sein. Mehr wollte ich nicht. Ich schloss die Augen und schlief wieder ein.

BreathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt