41. Kapitel - Hütte

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Ich fühlte mich unwirklich, hatte den Eindruck, mich von oben herab zu beobachten, wie ich Dinge tat, die ich eigentlich nie tun würde.
Ich war ein bisschen vom Weg abgekommen und saß auf einem Baumstamm zwischen lauter hohen Tannen und anderen Bäumen, die hier so dicht standen, dass es fast dunkel war. Was war eigentlich mein Plan? Ich drehte die Rasierklingen zwischen meinen Händen und war mir nicht sicher, was ich damit wollte. Eigentlich hatte ich gerade gar nicht den Druck, mir was anzutun und dennoch hatte ich das Gefühl, es tun zu müssen. Ich sehnte mich nach meinem Leben vor einem Jahr zurück. Ich ging zur Schule, spielte noch Basketball, war noch mit Mareike befreundet, bereitete niemandem Probleme und war einfach ich. Einfach nur Ema. Ich hatte es eigentlich alles selbst in der Hand und doch fühlte es sich außer Kontrolle an. Das Handy vibrierte in meiner Gesäßtasche. Ich hatte einen verpassten Anruf von einer unbekannten Nummer. Die Klinik? Wahrscheinlich eher nicht, die würde nicht unterdrückt anrufen. Ich steckte das Handy wieder weg und starrte auf die Klingen in meiner Hand. Wer war ich? Mein Handy vibrierte erneut, diesmal wurde mir eine Nummer angezeigt. Vermutlich jetzt tatsächlich von der Klinik. Ich traute mich nicht, abzuheben. Ich hatte seit einigen Minuten eigentlich wieder eine Therapie, wahrscheinlich war deshalb aufgefallen, dass ich fehlte. Es war mir egal. Ich schaltete das Handy aus und erhob mich von dem Baumstamm. Wohin konnte ich gehen? Ein bisschen kam ich mir vor, als hätte ich keinen Ort, an den ich hingehörte und irgendwie war das ja auch so. Nirgendwo war ich Zuhause. Ich ging wieder auf dem Waldweg entlang, bis ich den Waldrand erreicht hatte und zwischen riesigen Feldern stand. Ganz in der Ferne am Horizont konnte ich das Dorf erkennen, in welchem Peter wohnte. Obwohl ich früher ausnahmslos in jedem Schulfach gute Noten hatte, konnte ich nicht einschätzen, wie viel Entfernung Fußweg es bis dorthin sein würden. Aber meine Stärke war auswendig lernen - das Schätzen der Entfernung erforderte vermutlich eher räumliches Vorstellungsvermögen... oder so.
Ich fühlte mich so verloren, ohne Plan oder Ahnung, wo ich hingehen sollte oder was ich als nächstes tun sollte. Meine rechte Hand umklammerte die Rasierklingen und ich steckte sie in die Tasche meines Pullovers. Ich seufzte und ging zwischen den Feldern einen schmalen Trampelpfad entlang, geradeaus auf das Dort zu. Eine Ahnung, was ich dort wollte, hatte ich noch nicht. Ich würde mich irgendwo verkriechen und die Nacht verbringen, obwohl mir klar war, dass ich mich nicht für immer verstecken konnte. Mir war ja auch gar nicht klar, warum ich es jetzt überhaupt tat. Verzweiflung? Lebensschmerz? Je weiter ich ging, desto klarer wurde mir, dass es Ewigkeiten dauern würde, bis ich das Dorf erreicht hatte. Ich blieb stehen. Die Felder um mich rum waren bepflanzt, aber besonders hoch gewachsen waren die Pflanzen noch nicht. Ich wollte schreien. Einfach so. Ich wollte all das Verlorene in mir rausschreien und mich selbst finden, in der Hoffnung, somit auch den Schmerz loszuwerden. Die niedrigen Felder ließen mich nur noch verlorener fühlen. So sehr ich mich auch bemühte, nachzudenken, es fiel mir nichts ein, was dieses Leben für mich noch bereithalten könnte. Ich blickte mich um. Es war wirklich kein Mensch hier zu sehen. Rebellisch wie ich heute war, ging ich quer über das Feld zurück zum Waldweg. Vom Waldweg ging ich einfach gerade durch in den Wald hinein. Ich kletterte über Wurzeln und duckte mich unter Ästen durch, kreuz und quer ging ich da entlang, wo es am einfachsten war, durchzukommen. Sobald es dunkel werden würde, würde ich wohl komplett die Orientierung verlieren. Die Bäume lichteten sich etwas und ich kam an einer Art Lichtung an. Hier lagen Baumstämme auf dem Waldboden, um eine Feuerstelle herum. Etwas weiter an den Bäumen war eine kleine Holzhütte. Die war so verwittert, dass ich es bezweifelte, dass das hier noch genutzt wurde. Hinter der Holzhütte ging ein Trampelpfad an den Bäumen entlang und wenn ich mich nicht täusche, konnte ich dahinter einen geschotterten Weg erkennen. Also doch nicht im Wald verirrt.
Vorsichtig rüttelte ich an der Tür der Hütte und zu meinem Erstaunen ließ sie sich total leicht öffnen. Da drin waren aber nur eine Holzbank, die an der Wand der Hütte integriert war und eine dunkle Holzkommode. Es roch modrig und ich bekam Gänsehaut, als ein leichter Wind die Äste der Bäume am Holz der Hütte entlangschliff. In der Kommode war nichts, außer ein paar Tüten, in denen sich Decken befanden. Das war sicher vor einiger Zeit ein schöner Treffpunkt gewesen. Ich setzte mich auf die Bank und wünschte mir nichts als ein Zuhause und ein Bett, in das ich hingehörte. Nicht bei meinen Eltern, nicht in der Klinik, nicht bei Peter. Einfach ein Zuhause. Aber vielleicht gab es nicht für jeden Menschen auf dieser Welt ein Zuhause? Was, wenn es wirklich Menschen gab, die einfach nicht für diese Welt, dieses Leben gemacht waren? Warum war es so verpönt, nichts vom Leben wissen zu wollen, bloß weil die Mehrheit sich nicht gegen das Leben entscheidet? Ich habe nie danach gefragt, hier zu sein und dennoch war ich es nun. Am Leben, ohne es je gewollt zu haben. Ich habe den Trailer vom Leben nun gesehen und festgestellt, dass der Film mich nicht interessiert. Warum darf ich nicht abschalten? Ich muss nur abschalten, wenn keiner hinschaut und dann hoffen, dass ich auch wirklich abgeschaltet habe und nicht nur eine neue Folge dieser schlechten Serie beginnt.
Ich könnte es jetzt versuchen. Aber was, wenn ich nicht genug Mut hatte? Was, wenn ich mich nicht schlimm genug schneiden konnte? Wäre das denn schlimm? Es könnte eine normale Selbstverletzung sein und niemand würde es erfahren. Oder? Aber wollte ich das jetzt überhaupt so? So impulsiv und unüberlegt?
Unentschlossen drehte ich mich im Kreis, als mein Fuß gegen etwas stieß, das scheppernd umfiel.
Erschrocken blickte ich zu Boden. Eine Glasflasche kugelte langsam über das Holz. Ich bückte mich und sah mir das Etikett an. Es war eine Flasche Vodka. Sie war voll und verschlossen. Vielleicht war diese Hütte ja doch kein verlassener Treffpunkt, sondern es gab tatsächlich noch jemanden, der hier regelmäßig herkam? Eine Haltbarkeitsdatum konnte ich auf der Flasche nicht finden, allerdings war das Licht auch nicht besonders gut.
Ich setzte mich zu der Flasche auf den Boden, den Rücken gegen das feuchte Holz gelehnt. Zögernd öffnete ich die Flasche, der Deckel löste sich mit einem leisen Knacken. Mit zitternder Hand führte ich mir die Flasche an den Mund und nahm einen kräftigen Schluck. Die Flüssigkeit brannte mir die Speiseröhre hinunter in den Magen und ich musste augenblicklich husten. Angewidert verzog ich das Gesicht. Zwar hatte ich schon ein paar Mal in meinem Leben Alkohol getrunken, aber nie etwas so Hochprozentiges pur. Trotzdem nahm ich direkt den nächsten großen Schluck, der mir die Tränen in die Augen trieb. Ob die nun vom Alkohol oder aus Verzweiflung kamen, wusste ich nicht. Vielleicht beides.
Während ich mit der rechten Hand die Flasche umklammert hielt, fuhr ich mit dem Zeigefinger der linken Hand über den Holzboden der Hütte. Er war übersät mit Dreck und Schmutz, aber ich konzentrierte mich auf die Unebenheiten der Dielen, fuhr die Rillen und Linien nach und nahm immer wieder einen Schluck des Alkohols. Mit jedem Schluck schmeckte es weniger schlimm. Das Blut rauschte in meinen Ohren und so langsam prickelten meine Lippen. Es fühlte sich gut an. Leicht. Aber ich kam mir auch furchtbar armselig vor. Ich schämte mich dafür, dass ich ständig Aufmerksamkeit erregte. Denn kommentarlos würde das hier nicht über mich ergehen, auch wenn ich momentan allein war. Wieder stiegen mir die Tränen in die Augen und ich nahm vor Wut auf mich selbst noch einen großen Schluss Vodka. Ich fühlte mich betäubt und bereits ziemlich betrunken. Mit zusammengebissenen Zähnen fischte ich die Rasierklingen aus meinem Pullover und packte mit kalten Fingern eine aus. Das kleine Stück Edelstahl löste in mir ein beruhigendes Gefühl aus und ich krempelte mir den Ärmel hoch. Er war überzogen mit weißen und roten Linien und ich wünschte mir, meine Haut wäre unversehrt. Ich wollte in die Reinheit schneiden. Ich wollte nur einen einzigen Schnitt haben, der dafür perfekt war. Tief genug, lang genug. Suchend betrachtete ich den Arm und drehte ihn, um ihn genauer ansehen zu können. Ich hatte noch Platz, aber irgendwie war ich mit keiner Stelle zufrieden. Der Schnitt musste gut überlegt sein, um wirklich perfekt werden zu können. Ich wollte ihn genau nach meinen Vorstellungen haben. Die Konzentration darauf ließ mich alles um mich herum vergessen und ich nahm entschlossen einen letzten Schluck Vodka. Inzwischen war fast die halbe Flasche leer. Vielleicht hatte ich aber auch ein bisschen was verschüttet.

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