29. Kapitel - Sonne

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Worte waren nur aneinander gereihte Buchstaben, die irgendwo begonnen und irgendwo endeten. Im Grunde waren nette und unschöne Worte dasselbe.
Woher wussten wir also, was uns verletzte und was uns schmeichelte?
War es die Betonung, oder der Sinn, den die aneinander gereihten Buchstaben im Großen und Ganzen ergaben?
Ich wusste jedenfalls, dass irgendwo in meiner Seele etwas zerbrochen war.
Etwas Großes.

Mein Puls rannte um sein Leben, meine Muskeln zitterten, meine Lunge füllte sich widerwillig mit Luft.
Ich war verletzt.
Von meiner eigenen Mutter. Warum konnte sie nächtelang wegen Charly weinen und bei mir würde sie nicht einmal mit der Wimper zucken, wenn ich sterben würde?
Was hatte meine Schwester, was ich nicht hatte?
Immerhin hatte meine Mutter mir meine Entscheidung abgenommen. Ich würde Peter anzeigen.
Ich wollte ihr unbedingt beweisen, dass ich mir das nicht ausgedacht hatte.
Ich hatte Hoffnung, dass Kate mir weiterhelfen konnte.

Ich setzte mich außer Atem auf die Parkbank in dem Park, in den ich schon öfter geflüchtet war, in der Hoffnung, meinen Emotionen entkommen zu können. Ich kam immer wieder zurück, das hatte also nie funktioniert. Auch heute nicht.
Ich atmete tief durch, bemühte mich, ruhig zu bleiben.
Dann kramte ich nach meinem Handy und wählte Fionas Nummer. Es dauerte etwas, bis sie ran ging.
Ihre Stimme klang leise.
„Ja Ema? Ist alles okay? Ich bin noch in der Schule."
Ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich sie in der Schule störte, bloß weil in meinem Leben irgendwelches Zeug nicht so lief, wie es laufen sollte.
Ich erzählte ihr trotzdem von dem Plan ihrer Mutter und, dass ich ihn umsetzen möchte. Nach kurzem Zögern, erzählte ich dann auch von meiner Mutter und konnte meinen Worten kaum glauben, dass diese Aneinanderreihung von Buchstaben meine Mutter beschreiben sollten.

Ich blieb auf der Bank sitzen und schaute zwei Blättern zu, die der leichte Wind langsam über den Asphalt blies.
Beim nächsten Busch blieb eines davon hängen und das andere zog allein weiter.
Ich blickte Kates Kontakt in meinem Handy an. Sie war gar nicht so weit weg gezogen.
Meine Finger wählten die Nummer, legten sofort wieder auf. Ich traute mich nicht.
Was sagte man da?
Hallo, hat Peter dich auch missbraucht?
Nein, definitiv nicht. Hätte sie mich noch vor einer Woche angerufen und exakt das gleiche gefragt, hätte ich vermutlich einen Herzstillstand erlitten.
Ich wippte mit dem rechten Fuß.
Das Blatt war inzwischen fort.
Mein Handy leuchtete auf. Fiona fragte, ob ich zu ihnen kommen würde.
Die letzten Tage waren so durcheinander gewesen, dass ich ganz vergessen hatte, wie es war, mit sich selbst beschäftigt zu sein.
Wie es war, sich in seinen eigenen Gedanken zu verlaufen.
Wie taub der Körper wurde, wie man ihn wie eine Hülle einfach ablegen und ausblenden konnte, wenn man lange genug einen unbestimmten Punkt in der Ferne fixierte und sich im Schmerz verlor.

Langsam stand ich auf und reckte mein Gesicht der Sonne entgegen. Die Wärme holte mich in meinen Körper zurück und erinnerte mich daran, dass ich lebte.
Ich schloss die Augen und genoss für einen Moment die Sonnenstrahlen, die meinen Körper bis zur Zehenspitze erwärmten und fühlte das Leben in meinen Adern.
Es war wie Energie tanken.
Ich atmete leichter, meine Muskeln entspannten sich und mein Herz schlug freudig für die Sonne.
Jedes noch so kleine bisschen Energie konnte mein Körper gebrauchen. Denn ich war nicht sonderlich nett zu ihm.
Fast schon tat er mir ein bisschen leid, jetzt gerade im Moment jedenfalls.

Ich senkte meinen Kopf und öffnete die Augen. Mein Gesicht fühlte sich lebendig an, meine Wangen waren warm.
Ein schwaches Lächeln schlich sich auf meine Lippen und ich entfernte mich vom Park.
Es müsste das erste Mal gewesen sein, dass ich wütend in den Park ging und nicht verwirrt und voller Selbsthass wieder ging.
Manchmal gab es Situationen im Leben, in denen ich mich beinahe gierig nach dem kleinsten bisschen Leben sehnte.
Vermutlich waren es diese Momente, die mich am Leben hielten.

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