24. Kapitel - Dr. Ahnsmann

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Mit angehaltenem Atem stieg ich auf die Waage. Ohne zu blinzeln starrte ich auf die schwankende Zahl, bis sie schließlich still stand. Ich atmete hörbar aus und konnte es kaum fassen.
Ich konnte nicht fassen, wie gut ich war.
Was ich geschafft hatte.
Ich konnte nicht fassen, wie ich das zulassen konnte.
Aber ich war glücklich.

Ich zog mir schnell meine Kleidung an.
Ein Blick in den großen Wandspiegel im Badezimmer. Meine Jeanshose bildete Falten, sie saß längst nicht mehr so eng an meinem Körper an, wie noch vor ein paar Wochen.
Ich rückte meine Haare zurecht und schenkte meinem Spiegelbild ein schiefes Lächeln. Mein Herz schlug nervös in meiner Brust und erledigte seinen Job.
Heute war der Termin bei der Psychologin. Mein Vater würde mich begleiten, meine Mutter hatte nur müde gelacht. Sie sprach nicht mehr so besonders viel mit mir.

Beim Verlassen des Hauses warf ich einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel im Flur und stieg dann neben meinem Vater in das Auto. Es fühlte sich an, als würde ich zu meiner Befreiung fahren, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich mir überhaupt helfen lassen wollte.
Mein Vater und ich schwiegen uns die gesamte Fahrt über an. Vermutlich hatte er sich bei der Familienplanung nie vorgestellt, wie er sein Kind einmal zu einem Psychodoktor fahren wird.
Es tat mir leid, dass ich alle so enttäuschte. Oftmals bekam ich ein schlechtes Gewissen und hasste mich selbst für das, was ich war.
Krank.

Wir hatten unser Ziel erreicht und ich reckte neugierig den Hals. Ich konnte das Schild am Eingang bereits sehen und fragte mich, was wohl vorbeigehende Personen dachten, wenn sie die Patienten durch die Tür gehen sahen. Ob sie sich wohl ausmalten, welche Lebensgeschichte hinter dem Schutzschild Körper steckte? Ich jedenfalls würde das vermutlich tun.
Mein Vater hielt mir die Tür auf und betrat hinter mir das helle Treppenhaus. Wir gingen fünf Stufen hoch und standen dann vor einer großen weißen Tür. Man konnte sie öffnen, ohne vorher klingeln zu müssen.
Das Wartezimmer beinhaltete sieben Stühle und eine Menge Kinderspielzeug. An den Wänden hingen zwei Gemälde, beide waren symbollos.
Ich setzte mich auf einen der Stühle, so weit wie möglich entfernt vom Gesprächszimmer und spannte die Oberschenkel an. Mein Vater setzte sich neben mich. Ich war froh, dass er mitgekommen war, aber ich wollte nicht sprechen, wenn er dabei war.

Die Tür des Gesprächszimmers wurde geöffnet und eine freundlich lächelnde Frau begrüßte zuerst mich und dann meinen Vater und bat uns, ihr zu folgen.
Sie war etwa vierzig Jahre alt und trug eine runde Brille. Ihre Haare waren dunkelbraun und fielen ihr locker über die Schultern. Ihre Füße steckten in modernen Sneaker Schuhen. Sie wirkte sehr freundlich.
Wir setzten uns ihr gegenüber an den Schreibtisch und ich spannte wieder meine Oberschenkel an.
Auf ihrem Schreibtisch stand eine ziemlich alte Lampe, direkt daneben waren Taschentücher. Ich musste schmunzeln. 
Neben den Taschentüchern stand ein Behältnis mit Visitenkarten.
Dr. Ahnsmann Kinder- und Jugendpsychologin.

Ich stellte mich ihr vor, nannte Name, Alter und sonstige nichtssagende Details.
Ich erinnerte mich von der Zeit in der Klinik daran, dass die ersten Gespräche meist sehr oberflächlich waren.
Mein Vater schilderte die Situation und den Grund unseres Erscheinens aus seiner Sicht, welche deutlich dramatischer klang, als ich es beschrieben hätte.
Dr. Ahnsmann machte sich fleißig Notizen, fragte hier und da mal etwas nach und richtete ihre Fragen auch mal an mich.
Ich berichtete ihr aus der Klinik und wie es mir in der Zeit danach ging.
Doch alles drehte sich oberflächlich nur darum, welche Probleme ich verursachte und dass ich krank war. Mit meinem Wort wurde die Zeit bei Peter erwähnt.
Dafür war mein Rückfall von vor wenigen Wochen großes Thema und mein Vater beschrieb bis ins letzte Detail, was geschehen war.
Ich wurde mit jedem Wort unsicherer und saß inzwischen völlig verkrampft auf dem Stuhl. Je öfter er über das Blut redete, desto mehr wollte ich mich wieder verletzen.
Zum Ende wurde mein Vater noch ins Wartezimmer geschickt und ich sollte allein mit der Ärztin sprechen.
Da erwähnte ich dann auch Peter, als sie fragte, wie ich das Familienleben erlebte.
Sie schrieb alles mit.
„Wie hast du denn dann die Zeit bei deinem Onkel in Erinnerung?“, hakte sie nach, nachdem ich fertig war, über meine Eltern zu sprechen.
Ich schluckte schwer. Ich wusste, dass es nicht Sinn der Sache war, zu lügen. Die Wahrheit konnte und wollte ich jedoch nicht so einfach aussprechen. Das war mir noch nie so wirklich gelungen, wenn ich auch schon hin und wieder etwas deutlicher wurde, zum Beispiel in der Klinik. Aber ausgesprochen habe ich es nie.
„Nunja, mein Onkel hatte nicht so viel Ahnung von Kindern und Erziehung und war sehr streng.“, stammelte ich und rutschte nervös auf meinem Stuhl herum.
„Würdest du sagen, dass deine Probleme einen Zusammenhang mit deiner Zeit bei deinem Onkel haben?“, fragte die Psychologin und lächelte mich an.
Ich zuckte die Schultern. „Vielleicht, ja.“
„In welcher Hinsicht war er denn streng, dein Onkel?“, sie sah von ihren Notizen über den Rand ihrer Brille auf.
Mein Puls beschleunigte. „Manchmal hat er zu viel getrunken und wurde dann schnell wütend. Da konnte ich nie was richtig machen.“, sagte ich und verschluckte mich beinahe.
Dr. Ahnsmann notierte sich was. „Wie äußerte sich seine Wut? Hat er viel geschrien, Verbote erteilt?“
Ich schickte eine Bitte nach der anderen Richtung Himmel und hoffte, dass sie aufhören würde, mich auszufragen. Vielleicht war das doch keine gute Idee gewesen. Was konnte ich aber auch nur so naiv sein und glauben, dass ich eine Therapie erfolgreich hinter mich bringen würde, ohne die Wahrheit über Peter rausrücken zu müssen. Warum fiel mir das so schwer?
Es war doch nicht meine Schuld. Es war nicht meine Schuld.
Es. War. Nicht. Meine. Schuld.
Oder doch?
Sollte ich ihr sagen, dass mir die Fragerei aktuell zu viel war? War das unhöflich? Aber das würde ich mich sowieso nicht trauen. So wie alles im Leben. Ich war ein lächerlicher kleiner Angsthase.
Ich atmete tief ein. „Er war dann nicht sehr nett.“, antwortete ich mit rasendem Herzen.
Dr. Ahnsmann runzelte die Stirn. „Was kommt dir in den Sinn, wenn du über deinen Onkel nachdenkst?“, fragte sie schließlich.
„Wut, Hass, Ekel. Angst...“, piepste ich, obwohl ich mich bemühte, selbstsicher zu klingen. Ich entspannte meine schmerzenden Oberschenkel und überschlug meine Beine.

Die Psychologin notierte sich ein letztes Wort und entließ mich mit der Drohung, beim nächsten Termin dort anzuknüpfen, wo wir jetzt aufhören mussten.
Es war sicherlich keine Drohung, fühlte sich für mich jedoch so an.
Mein Vater vereinbarte den nächsten Termin mit ihr und schon waren wir wieder durch die Tür hindurch und durch das Treppenhaus ins Freie. 

Ob die Psychologin wohl so planlos war, wie ich sie lassen wollte? Oder war sie zu erfahren, um meine ausweichenden Antworten nicht deuten zu können?
Ich wollte es einerseits endlich in die Luft schreien, all die Schmerzen die ich über die Jahre hinweg erfahren musste.
Andererseits war da diese Scham, ganz tief in mir drin verankert klammerte sie sich an mir fest und ließ mich daran zweifeln, ob ich tatsächlich so unschuldig war.
Ich hatte Peters Leben durcheinander gebracht, seine Frau Kate hatte sich wegen mir von ihm getrennt.
Ich war schon immer jedem zu viel. Vielleicht lag es ja letztendlich doch an mir selbst und ich war nur zu egoistisch, das einzusehen.

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