Sechs

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(Leichte Triggerwarnung vor Gewalt, Verletzungen. Absatz ist mit "⚡" am Anfang und Ende markiert für die, die es überspringen wollen.)

> Noah <

Träge verließ ich das Haus und spazierte zu den Stufen. Mein Kopf dröhnte, als hätte ich mir eine Nacht lang durch Lautsprecher Jonas schlechte Musik gegeben. Gott, ich konnte nicht einmal die Augen offenhalten und hatte den schlimmsten Muskelkater seit langem. Meine Faust formte sich gedankenverloren wie von selbst und ich sah es als Zeichen wieder mit dem Boxen anzufangen. Zumindestens im Alleingang - die ganzen Turniere konnte ich nämlich nie leiden.

Kiras Vater wird sie heute zur Schule fahren, also ließ ich mich auf eine Stufe fallen und wartete auf Linn - während mir das Atmen im Allgemeinen plötzlich schwer fiel. Da Amy gestern meine Zigarettenpackung weggeworfen hatte, habe ich jetzt keine mehr zum Anzünden. Genervt suchte ich in meinem Rucksack meine Kopfhörer und fand sie in einem unendlichen Knoten und ohne diese weichen Plastikdinger, die ins Ohr gehen wieder. Seufzend schmiss ich sie zurück in den Rucksack. Obwohl Timmy heute früh auf dicken Pullover und Winterjacke bestanden hatte, war mir jetzt nicht wirklich kalt und ich saß in meiner eher dünnen Collegejacke da. Jonas lag noch in zwei Decken eingewickelt in seinem Bett, während ich irgendwann in der Nacht von dem Sofa auf den Boden gefallen war und dort weitergeschlafen hatte - ohne Kissen und Decke.

Ich hoffte dennoch, dass Linn sich beeilt, wenn sie nicht zu lange mit Leo trödeln sollte.

Ich hab das Gefühl, dass ich mir gestern mehrmals die Kante gegeben habe, denn sonst könnte ich nicht erklären, warum ich gefühlt mit einem schrecklichen Alkoholkater aufgewacht bin. Meine Augen schliefen wahrscheinlich immer noch, weil irgendwie das Sehen an sich wehtat. Mein Kopf war wie benebelt von einer dichten, undurchschaubaren Nebelschicht. Ich hab keinen Bock mehr auf heute.

Mir lag der gestrige Tag noch immer schwer im Kopf. Warum konnte ich mich nicht erinnern was ich getan habe? Was habe ich denn alles getan? Es war einfach alles weg. Als wenn ich aus dem Nichts eingeschlafen wäre.
Genauso verließen mich Mamas und Papas Erzählungen nicht mehr.
Ich striff nachts als Wolf umher und keiner konnte mir das vorher sagen? Es war zum Verrücktwerden! Obwohl... ich war ja schon davor verrückt.

Laut Jonas soll ich in den Ferien als Wolf durch das Flurfenster im zweiten Stock hinaus gesprungen sein, aber morgens immer heil im Bett gelegen haben. Und ich hab nicht die leiseste Ahnung wie. Mein Nintendo, den Jonas genervt vor mir vor ein paar Jahren mal aus dem Fenster geworfen hat, hat den Flug nicht überlebt. Aber ich angeblich schon? Heute früh habe ich einen unauffälligen Blick durch das Fenster geworfen und ich hatte Applaus an meine Gesunheit gesandt. Locker sechs Meter. Verdammt, ich war ein Monster! Noch mehr Sorgen machte ich mir nur von wem das angebliche Blut stammen könnte.

Hinter mir vernahm ich Schritte und stand auf. Also war sie auch endlich aufgestanden. Aber mein Gefühl sagte mir sofort, dass etwas nicht stimmen konnte. Das war nicht Linn. Sie ging nicht so schleppend wie ein Elefant. Verwundert drehte ich mich um und sah Leo, der erstarrt stehen blieb und mich mit aufgerissenen Augen verschreckt anstarrte. Als wäre ich ein Jäger und er fände sich direkt vor meiner Falle wieder. Bleich trat er zwei Schritte zurück und er schien bereit falls nötig noch mehr zurückzugehen. Okay...

"Was ist denn mit dir los?", fragte ich ihn verwirrt. Sonst war er ja immer so angeblich selbstbewusst, aber jetzt schien er fast schon eingeschüchtert. Dafür klopfe ich mir später auf beide Schultern.
"Das wollte ich dich gerade fragen. Geht es dir gut?", stotterte er vor sich her. Stottern? Leo? Ich musterte ihn dumm, bis er nicht schon das vierte Mal innerhalb weniger Sekunden schluckte. Was ist denn in den gefahren? War das etwa die übliche dänische Art des Smalltalks?

ᴡɪᴇ ʜᴇɪßᴛ ᴅᴇɪɴᴇ ᴡᴏ̈ʟғɪɴ? ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt