Zweiundsechzig

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~ Linn ~

Ich war zu Tode erschrocken vor dem Boten aus dem Rudel am See und ich traute mich nicht wirklich ihn alleine zu lassen und mich wegzuwenden. Die Angst wollte in mir nicht abschwachen, weil in mir der irre Gedanke nicht verschwinden wollte, ob er mich nicht packen oder anfallen würde.
"Da kommt etwas.", meinte er aus dem Nichts und drehte sich der Straße zu. Er war kurz davor sich zu verwandeln, während ich die Ohren spitzte und gerade noch so ein Auto wahrnahm. Hoffentlich war es Noahs Vater. Vorhin  beim Telefongespräch hatte ich gehört wie er sofort nach seinem Chef gerufen und sich herausgeredet hatte, dass es ein Anruf aus der Schule sei, sein Sohn krank ist und er ihn abholen musste. Mein Gewissen war in dem Moment so erleichtert gewesen, dass er gleich eine Ausrede parat hatte und sich sofort in sein Auto geworfen hatte. Und ich hoffte, dass er nun gerade die Straße auffuhr. Ich sprang auf und hielt den Boten ab auf das Auto zuzujagen. "Warte!" Knurrend blieb er stehen und starrte mich zugrunde. Ich zuckte zusammen und dankbarerweise war das Auto, das wir gehört hatten auch tatsächlich das von Noahs Vater.

Julian blieb geschmeidig stehen und stieg aus, während ich sicherheitshalber weiter vom Boten wegwich. "Guten Tag.", begrüßte Julian uns und schloss mit dem Knopf an seinem Autoschlüssel seinen Wagen ab. "Linn, hast du dich krankgemeldet für heute?" Ich nickte ihm nur eingeschüchtert zu, während er vor dem Wolf stehenblieb, der sich langsam zurückverwandelte. Amy hatte ich vorhin noch in aller Eile eine Nachricht geschickt, dass ich derzeit verhindert bin, es mir gut geht und sie einfach sagen soll, dass ich eine Magenverstimmung habe. "Julian Sebor. Alpha des Rudel am Berg.", stellte er sich dem Boten ernst vor und reichte ihm eine Hand zur Begrüßung, die der Bote kurz schüttelte.
"Olaf. Bote aus dem schweizer Rudel der Freileber."
"Freut mich. Trinken Sie Tee oder Kaffee?" Etwas an Noahs Vater schien anders als ich ihn sonst kannte. Er wirkte viel strenger und distanzierter. Authoritär. Das war ein Alpha.
"Tee."
"Gut. Dann besprechen wir doch am besten alles bei einer guten Tasse in unserem Packhaus." Dann wandte er sich sanfter an mich und deutete mit dem Kopf in den Wald. "Komm, Linn."
"Ehm... ich will nur kurz meine Tasche dalassen... wenn das okay ist.", fing ich unsicher an und nahm mir meinen Rucksack von den Schultern.
"Wir können vorgehen.", schlug Olaf vor.
"Wir warten.", korrigierte Noahs Vater ohne mit der Wimper zu zucken.

Ich sah unsicher zwischen den beiden Fronten hin und her, bis mir Julian nicht kurz signalisierte, dass ich machen soll, was ich wollte. Olaf warf mir einen dunklen Seitenblick zu, wodurch ich sofort aufsprang und meinen Schlüssel hervorkrammte um die Tür wieder aufzuschließen.

Es fühlte sich mehr als nur sicher an, dann hinter der geschlossenen Tür zu stehen und endlich aufatmen zu können. Eine Barriere zu all dem wartenden Disaster da draußen zu haben. Meine Tasche ließ ich im Türbereich auf dem Boden ab und raste schnell die Stufen hoch bis zum Schlafzimmer meiner Eltern.

"Mond?" Obwohl ich von der fühlbaren Spannung in meinem Garten weiter entfernt war, klopfte mir mein Herz bis zum Hals. Genauso wie ich kurz an der Tür zum Schlafzimmer anklopfte. "Bist du noch wach?"
"Bist du nicht zu spät für die Schule?" Zu meiner Überraschung drückte sich die Klinke von selbst hinab und die Tür öffnete sich langsam. Mond stand mir gegenüber und hielt sich gerade noch so auf den Beinen. Außerdem klammerte er sich an die Türklinke als ob sein Leben davon abhängen würde.
"Spinnst du?", zischte ich ihm harsch zu. "Leg dich wieder hin. Du bist noch zu angeschlagen um alleine aufzustehen."
"Ich will nach dir schauen.", raunte er benommen und fasste sich an den Kopf. Er machte Fortschritte, die heilend und regenerierend waren. Aber eben nur kleine Fortschritte.
"Leg dich wieder hin, Mond, und was soll das heißen du willst nach mir schauen?" Bekräftigend legte ich ihm eine Hand an die Brust und drückte ihn zurück in Richtung Bett. Er gab nur widerwillig nach und setzte sich seufzend zurück.
"Linn, ich habe gehört was da draußen los ist und was der Typ gesagt hat. Geht es dir gut?", sprach er eindringlich auf mich ein.
Aufseufzend drückte ich ihn weiter zurück, sodass er sich unweigerlich auf das Bett wieder hinlegen musste. "Noahs Vater ist da. Er wird das schon regeln."
Die Verantwortung strahlte praktisch aus ihm heraus und in solchen Massen, dass ich in Frage stellte ob nicht Noah schon ein Alpha war und die Rudelskraft, die einem Alpha zustand, bereits in sich trug. Ich fühlte, dass er viel zu stur war um mich das alleine regeln zu lassen. Doch was will er schon dagegen machen? Will er mit zur Besprechung? Will er das andere Rudel einschüchtern? "Bist du sich-", fing er im Aufsetzten zu sprechen an, doch ich drückte ihn wieder hinab. So sehr wie sich Amy unbewusst davor gesträubt hat, dass ich ihr ihren inneren Wolf wieder zusammensuchte, war ich schon an das Hinabdrücken gewöhnt.
"Hab etwas Vertrauen in ihn, Mond. Er ist ein Alpha und Noahs Vater. Außerdem kannst du in deinem Zustand jetzt nichts anstellen."

ᴡɪᴇ ʜᴇɪßᴛ ᴅᴇɪɴᴇ ᴡᴏ̈ʟғɪɴ? ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt