Sechzig

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~ Linn ~

Plötzlich fühlte sich alles wieder so real an. Ich wollte im Kopf keine weitere Zusammenfassung herstellen, was mir die letzten zwei Tage passiert ist, aber das jetzt war der Moment den ich mir sowohl am meisten hergesehnt habe und vor dem ich mich nun auch am meisten fürchtete. Ich dachte es würde anders sein. Dass Mama oder Papa mich freudestrahlend anrufen würden und sagen würden, dass das alles nur übertriebene Paranoia war und sie keiner verfolgt, dass es doch nicht die Art geheime Ritual war weswegen das alles überhaupt gestartet hat oder zumindestens dass sie es geschafft haben erfolgreich vor den Freileber zu flüchten und dabei ihre Handys und alles verloren haben. Dass sie irgendwoher genug Kleingeld für eine altmodische Telefonzelle aufgetrieben haben oder jemanden für zwei Minuten und einen Anruf mit dessen Smartphone angefleht haben.

Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass der Alpha der Freileber sich persönlich bei mir melden wird. Dass er mich anrufen wird und mit mir sprechen möchte. Ich konnte das nicht. Beinahe hätte ich Alex mein Handy in die Hand gedrückt, aber er wirkte nur noch verlorener als ich und ich konnte es ihm keine Sekunde übel nehmen. Wer wüsste schon wie ich reagieren würde, wenn ich herausfinden würde, dass ich das Kind von Freilebern bin und die mich - obwohl Freileber sehr stark auf Familie ausgelegt sind - zurückgelassen und ausgesetzt haben?

"Linn Hambe." Ich zuckte auf als die raue Stimme wieder durch das Handy ertönte. "Hör jetzt zu. Ich wiederhole mich nie." Und obwohl Alex so überfordert schien, schaffte er es irgendwie mir auf seinem Handy zu zeigen, dass er die Nachricht mit seinem aufnahm. Beinahe hätte ich erleichtert aufgeatmet. "Isabella und Tom Hambe befinden sich jetzt in meinem Rudel-"
Moment- "Das heißt sie leben noch?", sprach ich unüberlegt dazwischen und wäre beinahe vor Jubel mehrmals aufgesprungen.
"Unterbrich mich nicht.", knurrte er entnervt zurück und ich zuckte zusammen. Keine gute Idee gewesen dazwischenzureden. Müde atmete er aus und es viel mehr schwer anhand der Stimme einzuschätzen, wie alt er war. Er könnte im Alter von Alex und mir sein, aber er könnte auch älter sein. Freileber geben meistens ihr Rudel an die nächststärkere Generation ab - so wie es auch bei Noahs Rudel der Fall ist. "Wie gesagt. Mein Rudel. Von deinen Eltern weiß ich, dass ihr alle drei rudellos seid. Wie alt bist du, Linn?"
"Ach-achtzehn.", stotterte ich ūberrascht heraus.
"Also erwachsen. Wie sieht es mit deiner Matesuche aus?"

Warum interessierte ihn sowas? Was ist jetzt mit meinen Eltern los? "Wir sind zusammen, aber noch nicht markiert."
"Welchem Rudel gehörst du an?"
"Keinem." Alex hantierte bei meiner Antwort heftig mit den Armen herum, weswegen ich ihn kritisch musterte.
"Unser Rudel.", hauchte er und ich war einen Moment zurückgesetzt. Klar hatten Noah und ich darüber geredet, dass ich seinem Rudel beitreten werde, aber nicht mehr seit er das Packhaus hefunden hat. Und um ehrlich zu sein waren die Momente nicht die besten gewesen seitdem er das Packhaus entdeckt hat. "Aber-", sprach ich dann laut weiter. "Aber ich habe vor dem Rudel meines Mates beizutreten." Es war ein ganz komisches Gefühl sowas auszusprechen und dem Gedanken weiterzuverfolgen. Es war genauso wie wenn man einen Freund findet und sich schon die Zukunft mit ihm ausmalt - aber detailliert. Hochzeit, Haus, Job und Kinder während man sich beim ersten Date gegenübersitzt. Oder sich schon die Ehefrau von jemanden zu nennen, während man erst kürzlich verlobt ist.

"Welche Position hat er in seinem Rudel?"
"Er ist der nächste Alpha."
Auf der anderen Seite war es kurz ruhig und beinahe hätte ich in meinem Zustand Noah die Schuld für alles zugeschoben, wenn jetzt der Freileberalpha wegen seinem Alphastatus auflegt. Doch dann sprach er schlussendlich weiter. "Nächste? Damit kann ich nichts anfangen. Ist er Alpha oder nicht?"
Naja. Irgendwie war Noah noch dazwischen. Genau genommen und ganz offiziell leitet Jonas noch das Nebenrudel. "Er übernimmt das Rudel ab dem nächsten Vollmond." Wenn er bis dahin aufwacht.
"Wann ist der nächste Vollmond?", hörte ich ihn plötzlich fragen, aber seine Stimme klang leiser. Redete er überhaupt mit mir? Eine zweite Stimme erklang neben ihn und murmelte etwas was ich nicht verstehen konnte. "Echt?" Er klang verblüfft. "So lange kann ich nicht warten."
Alex hob mir derweil alle zehn Finger entgegen, während er sein Handy ungewohnt zwischen seiner Wange und seiner Schulter festhielt.

ᴡɪᴇ ʜᴇɪßᴛ ᴅᴇɪɴᴇ ᴡᴏ̈ʟғɪɴ? ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt