Der Deal

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Am Morgen hatte ich zum ersten Mal wieder wirklich Hunger. Ich fühlte, wie mein Magen laut grummelnd nach Essen verlangte. Der verführerische Duft von gebratenem Speck und Rührei machte es nicht besser.
Meinen Magen kümmerte es nicht, ob ich eine Gefangene war oder nicht. Er machte einfach ganz normal seine Arbeit. Da war es egal, ob mein Kopf mir sagte, dass ich mich in einer absolut nicht normalen Situation befand. Ich fühlte mich irgendwie von meinem eigenen Körper verraten.

Ich beobachtete Jarvis vom Küchentisch aus. Er hatte sich eine Schürze übergeworfen, auf der in großer, schwungvoller Schrift die Worte „Almost better than Jamie", stand. Zu allem Überfluss summte er einen schon etwas in die Jahre gekommen Weihnachtssong for sich hin, während er geschickt den Bacon in der Pfanne wendete. Seine Bewegungen wirkten dabei elegant und routiniert. Der Vampir in der Küche wirkte noch immer etwas skurril auf mich.

Mein Blick fiel durch die lange Fensterfront nach draußen. Heute Nacht war der erste Schnee gefallen. Eine dünne, aber gleichmäßige Schneedecke hatte sich über die Wiese vor dem Haus gelegt. Auf den Zweigen von Bäumen und Sträuchern häuften sich kleine Mengen Puderzuckerschnee, welcher frisch in der Morgensonne glitzerte. Die Strahlen der Wintersonne ergossen sich vom hellblauen Himmel herab über die unberührte Landschaft und verwandelten die ganze Umgebung ein ein Wintermärchenland.
Die Welt draußen war so weis und hell, dass ich meine Augen schließlich abwenden musste, um nicht geblendet zu werden.

„Du siehst heute schon wesentlich besser aus. Dein Gesicht hat wieder etwas Farbe."

Jarvis stellte das üppige Frühstück vor mir auf den Tisch. Eigentlich war ich noch nie ein großer Fan von ausführlichem Frühstück gewesen. Als ich noch kleiner war, hatte meine Mutter immer auf das gemeinsame Frühstück mit der Familie bestanden. Ich erinnerte mich noch zu gut daran. „Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des ganzen Tags", hatte sie dabei immer gesagt.
Mein Vater hatte damals immer mit seiner Zeitung und einer Tasse Kaffee am Küchentisch gesessen und nur missbilligend den Mund verzogen. „Es ist auch die einzige Mahlzeit, die essbar ist, wenn du sie machst. Vielleicht weil sie nicht nach italienischem Familienrezept zubereitet ist."
Ich hatte noch genau vor Augen, wie Luca sich in diesem Moment mehrere Happen Pfannkuchen in den Mund stopfte. Wie ein Rennpferd am Hafer schaufelte er einen ganzen Joghurt und zwei Pfannkuchen in Windeseile in sich hinein.
„Wie kannst du das nur sagen! Ich mache alles für die Familie. Alles! Aber du, du..."
Ich blickte auf die Pfannkuchen am Tisch und versuchte unsichtbar zu sein. Mir war schlecht. Hilfe suchend warf ich meinem Bruder einen vielsagenden Blick zu.
Mach was! Ich will hier weg!
„Ich hab noch was vor. Ich muss zum Fußballplatz. Hab mit Tim ausgemacht, dass wir uns für das Spiel morgen extra vorbereiten und trainieren", sagte er mit noch halb vollem Mund. Er spülte den Rest des Frühstücks mit einem Glas Eistee runter und machte sich aus dem Staub.
„Das ist mein Sohn. Ganz der Papa. Mach mir keine Schande, ja?", rief mein Vater ihm hinterher. Ich ballte die Hände unter dem Tisch zu Fäusten.
„Keine Sorge! Wir gewinnen sicher. Bis später!"
Verräter!
Das war der Moment, in dem meine Mutter die Beherrschung verlor.
„Kannst du mir nicht ein einziges Mal zuhören! Ist es denn zu viel verlangt, dass wir gemeinsam Essen? So wie andere Familien eben auch! Ich hätte dich nie heiraten sollen!"
Und damit war das Feuer eröffnet. Die wichtigste Mahlzeit des Tages wurde Schauort eines wahrend Grabenkampfes. Worte schossen wie Kugeln hin und her. Anschuldigungen schlugen ein wie Granaten. Ein Schlachtfeld voll mit verletzten Gefühlen und enttäuschter Erwartungen auf beiden Seiten.
Und ich mitten drin.
Ich stellte mich taub, nippte an meinem Glas Milch und zog mir den kleinsten Pfannkuchen vom Stapel auf den Teller, während um mich herum die Ehe meiner Eltern in die Brüche ging.

„Bea? Alles in Ordnung?"
Ich zuckte zusammen. Jarvis wedelte mit der Hand vor meinen Augen hin und her, um mich wieder in die Realität zurückzuholen. Er warf mir einen besorgten Blick zu. Ich holte tief Luft, um die Erinnerung abzuschütteln.
„Entschuldigung. Alles gut. Ich hab mich nur an was erinnert."
„Du siehst aus, als wäre dir schlecht." Jarvis roch am Teller. „Die Eier sind doch in Ordnung, oder?"
Ich bemühte mich um ein mildes Lächeln. „Ich bin nur kein Freund von ausführlichem Frühstück. Das ist alles."

In seinen FängenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt