Jarvis schaltete für den Rest des Abends einfach sein Handy aus.
„Wer ist der geheimnisvolle Anrufer?", fragte ich ihn, während ich es mir mit einer Tasse Tee auf der Couch bequem machte. Er lächelte nur mild, aber blieb mir die Antwort schuldig. Stattdessen wechselte er das Thema.
„Am Donnerstag hat dein Bruder Geburtstag, nicht wahr? Aber warum besteht deine Mutter darauf, ausgerechnet unter der Woche zu feiern?"
Gute Frage. Das hatte ich auch schon so oft angesprochen. Ich verdrehte die Augen bei der Erinnerung an das Gespräch vom letzten Jahr.
„Meine Mutter besteht darauf, weil sie glaubt, dass sonst die Hälfte der Familie nicht erscheinen würde."
Jarvis legte verwirrt die Stirn in Falten. "Das macht nicht wirklich Sinn?"
„Nein, tut es wirklich nicht. Aber sie sagt, dass es Unglück bringt am Wochenende vor seinem Geburtstag schon zu feiern und wenn man es auf das folgende Wochenende schiebt, ist man laut ihr viel zu nah an Weihnachten dran. Sie denkt, dass dann die Verwandtschaft entweder zu dem einen oder zu dem anderen Fest kommt, aber nicht zu beiden."
„Haa.. Das ist wirklich typisch", seufzte er. "Aber es sind gute zwei Stunden Fahrt. Willst du in der selben Nacht noch zurückfahren?"
Ich schüttelte den Kopf. "Ich hab mir schon vor Monaten für diesen Freitag Urlaub genommen. Im Grunde muss ich ohnehin meinen ganzen Urlaub vor Weihnachten noch nehmen, weil ich nur drei Tage davon mit ins neue Jahr nehmen darf."
„Und das ist typisch für deine Firma. Dein Arbeitgeber ist ein echter Sklaventreiber."
Ich zog die Augenbrauen hoch. „Aber die Bezahlung ist wirklich okay."
„Okay ist bei weitem nicht genug für das, was dein Chef verlangt. Sobald deine Probezeit endet, solltest du nach einer Lohnerhöhung fragen." Jarvis verzog abschätzig den Mund. Offenbar hielt er nicht viel vom werten Herrn Stölzer. Zumindest waren wir hier einer Meinung.
„Aber noch mal zurück zu Donnerstag", sagte er, „Fährst du wieder mit dem Zug hin und übernachtest dort?"
Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Das war nun über ein Jahr her und Jarvis wusste selbst darüber gut Bescheid. Wie lange hatte er mich wirklich schon im Visier gehabt?
Ich verdrängte den Gedanken und sprach weiter, als hätte ich nichts bemerkt.
„Ja, das war der Plan. Ich hab mich von meiner Familie bisher dort immer vom Bahnhof abholen lassen."
Jarvis nickte wissend. „Okay, dann behalten wir das einfach bei. Mir wäre es lieber, wenn deine Familie vorerst wenig von mir erfährt. Also halt mit den Infos dazu etwas hinterm Berg."
Seine dunklen Augen hatten einen kalten Schimmer, als sein ein Blick über meinen Hals glitt. Die Bisswunde war eigentlich verheilt, aber die Haut an der Stelle sah noch auffällig rot aus. In der Arbeit konnte ich das ganz einfach unter meinem Halstuch verstecken, aber eine frische Wunde würde meiner Familie mit großer Sicherheit nicht entgehen.
Das war auch ihm bewusst, denn er stützte den Kopf in die Hand und klickte unzufrieden mit der Zunge.
„Bis Donnerstag wird man vom alten Biss nichts mehr sehen, aber ein neuer wäre zu auffällig."
Er presste die Lippen aufeinander, sichtlich enttäuscht. Jarvis war eindeutig hungrig und unzufrieden mit der Gesamtsituation. Ich hingegen war tatsächlich zum ersten Mal mehr als nur froh um unsere seltsamen Familientraditionen.
Zufrieden beobachtete ich, wie er sich zum Abendessen einen Blutbeutel gönnte. Der Geruch und das Aussehen waren nach wie vor nicht appetitanregend, aber verglichen mit der Alternative, war mir dieses Abendessen wesentlich lieber. Ich schaffte es, mein eigenes Essen relativ unbeeindruckt davon in mich hineinzuschaufeln. Ich hatte tatsächlich einen riesen Hunger, weil ich meine Mittagspause übersprungen hatte.

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In seinen Fängen
VampirDie Vampire leben mitten unter uns. Als mittlerweile anerkannte Unterart des Homo Sapiens nutzen sie den neu gefundenen Deckmantel der Menschlichkeit zu ihren Gunsten. Aber wie viel Mensch steckt tatsächlich im Vampir? Ist ein harmonisches Mitei...