Lügner

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„Sitzt du bequem? Ich könnte dir auch eine Tasse Tee machen, wenn dir das hilft."
Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe, schüttelte leicht den Kopf. Im Grunde war ich viel zu sehr damit beschäftigt, meine Nervosität unter Kontrolle zu halten.
Jarvis saß genau wie gestern hinter mir auf dem Sofa und massierte meine zitternden Handflächen. Sein Atem in meinem Nacken ließ mir nach wie vor kalte Schauer den Rücken hinablaufen.

Es lief besser als gestern. Aber das war es auch schon.

Für mich war die Nähe zu ihm nach wie vor nur schwer zu ertragen. Mein Körper wehrte sich noch immer gegen seine Berührungen, aber das war nicht einmal wirklich das Hauptproblem.
Ich konnte ihn einfach nicht einschätzen. Und somit konnte ich ihm auch keinerlei Vertrauen entgegenbringen. Abgesehen davon, dass er mich gegen meinen Willen hier eingesperrt hatte, gab es nichts, was uns in irgendeiner Weise verband. Im Gegenteil. Für mich war er unberechenbar, weil ich nie wusste, ob ich seine Körpersprache überhaupt richtig deutete.

Welche Emotionen versteckten sich wirklich hinter seinem Lächeln?
Wollte er mich damit nur kooperativ stimmen? Was war an seinem Verhalten wirklich echt und was war nur gespielt?
Wenn er die Zähne zeigte, war ich dann in Gefahr oder wollte er mir damit lediglich meinen Platz in der Rangordnung klar machen?
Obwohl ich an diesem Platz nicht den geringsten Zweifel hatte...

Meine Möglichkeiten waren begrenzt. Ich wollte es ihm Recht machen, denn ich war auf seinen Gutwillen angewiesen. Ich musste sein Spiel mitspielen, um hier rauszukommen, musste irgendeine Verbindung zu ihm aufbauen. Aber aktuell tappte ich völlig im Dunkeln. Das hier war der zweite Tag, den ich zumindest bewusst mit ihm verbrachte und ich fühlte mich noch genauso hilflos wie bei unserer ersten Begegnung. Dran konnte auch unser Deal von eben überhaupt nichts ändern.

Auf dem Couchtisch stand eine kleine Box mit Iodsalbe, Tupfern und Wundpflastern. Eigentlich wusste ich ganz genau, wozu er die Schachtel hergerichtet hatte. Ich wollte es in diesem Augenblick nur nicht wahrhaben. Einfach nicht daran denken.
Ich wandte den Blick ab.
Die Reaktion entging ihm nicht. „Wäre es dir lieber, ich würde dich beißen und die Wunde im Anschluss nicht versorgen?"

Oh Gott! Erst gestern hatte ich ihm mein Blut angeboten, doch heute fühlte ich mich absolut unvorbereitet. Ich merkte, wie ich mich in seinem Griff verspannte. „Gestern meintest du noch, dass ich zu panisch dafür bin..." Selbst ich konnte das Zittern in meiner Stimme hören.

Er legte nachdenklich sein Kinn auf meine Schulter. „Wir müssen es nicht überstürzen. Lass uns erst sehen, wie es läuft. Zunächst die Theorie, dann die Praxis. Versuch dich erst mal etwas mehr zu entspannen. Ich werde dich nicht plötzlich überfallen, da hast du mein Wort. Wir reden jetzt erst mal darüber, wie so ein Biss genau abläuft."

Gab es nicht irgendetwas, was mir helfen konnte? Irgendetwas, das ich tun konnte!
Suchend wanderte mein Blick durch den Raum, doch ohne Erfolg. Hier gab es Nichts, was mich vor ihm schützten konnte.
Ich wollte das hier nicht. Ich hatte das noch nie gewollt!

„Vampire kommen auf zwei verschiedene Arten an Blut", fuhr er fort. „Zum einen wie ein Räuber, also ohne Betäubung. Deshalb sind unsere Fänge nicht nur spitz, sondern auch scharf. Keine Überlebenden, keine Zeugen.
Die zweite Möglichkeit ist mit Hilfe von Prey. In diesem Fall mit Betäubung. Die Natur hat sich dafür ein paar interessante Dinge einfallen lassen. Soweit ich weiß, wird das sogar mittlerweile an euren Schulen unterrichtet, oder?"

Eine Frage an mich. Fragen sind gut, schoss es mir durch den Kopf.
Solange er mir Fragen stellte, würde er mir nicht wehtun. Ich wünschte mir, er würde ewig weiterreden.

Ich nickte. „Ich erinnere mich nur nicht mehr an die Einzelheiten."
„Was genau weißt du noch?"
„Dass die Fänge hohl sind. Und dass Vampire verschiedene Stoffe im Speichel haben."
Jarvis summte zustimmend. „Hmm. Ja, richtig. Das Methodoxil wirkt betäubend und verhindert gleichzeitig, dass das Blut gerinnt. Das Tetrasamin hingegen stillt die Blutung. Auf lange Sicht fördert es die Regeneration, die Blutbildung und die Zellteilung. Wir benutzen es, um die Wunde nach dem Biss zu schließen. Die Menschen sind ganz scharf auf das Zeug."

In seinen FängenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt