Lug und Betrug

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Ich fühlte mich besser. Wesentlich besser. Fast wieder wie ein Mensch. Ich sah vielleicht noch nicht wieder aus wie einer, aber gefühlt war ich mittlerweile wieder auf dem Weg dahin.

Jarvis hatte mich so tief in den Schlaf geschickt, dass ich nicht mal geträumt hatte. Dieser Morgen war etwas seltsam für mich, zugegeben. Ich wusste, dass ich unter seinem Einfluss stand. Innerlich war ich darauf gefasst, dass er mich beißen oder wieder mit zu sich nach Hause nehmen würde. Aber er tat nichts dergleichen.

Stattdessen holte er Frühstück für mich und fuhr mich anschließend in die Arbeit. Ich wartete, bis er den Wagen wieder an der mir mittlerweile gut vertrauten Straßenecke abstellte. 

"Ruf mich an, wenn du heute Feierabend hast. In der nächsten Zeit wäre es mir lieber, wenn du nicht alleine mit dem Bus nach Hause fährst. Wir wissen noch immer nicht, wer die Videos gemacht hat."

Seine Worte verunsicherten mich. "Ich dachte, derjenige wäre nur hinter dir her?", platze es aus mir heraus. Jarvis zog amüsiert eine Augenbraue nach oben.

"Wer ist wohl deiner Meinung nach leichter auszuschalten. Ich oder du?" Er hatte ein unheiliges Lächeln auf den Lippen, als er fortfuhr.

"Ein hungriger Progenitor ist ein schwacher Progenitor. Und schwache Progenitoren sind leichter loszuwerden, oder nicht? Deshalb ist Prey nicht unbedingt sicherer, nur weil es menschlich ist. Ich würde mich nicht unbedingt darauf verlassen, dass diese Leute dich in Ruhe lassen. Vor allem, wenn sie mir damit schaden können."

Scheiße. Ich schluckte den Klos in meinem Hals runter. Ja, das klang einleuchtend. Nach allem, was mir Adrien erzählt hatte, überlebte ein gesunder Progenitor sogar schwerste Verletzungen. Wenn ich ein Vampirjäger wäre, würde ich dann den Vampir töten und sein Prey retten? Oder würde ich versuchen, sein Prey zu töten, um den Vampir dranzubekommen?

Ich schauderte. Mein Vater, hatte er jemals solche Dinge getan? Bisher hatte ich immer ganz bewusst vermieden, daran zu denken. Dad war kein schlechter Mensch gewesen, daran wollte ich nach wie vor glauben. Aber niemand konnte leugnen, dass er sich veränderte hatte, nachdem er der Sekte beigetreten war. Meine Hände zitterten leicht. Hatte er jemals unschuldige Menschen getötet?

"Bea?" 

Ich sah auf. Jarvis strich mir übers Haar. "Mach dir nicht zu viele Sorgen, ja? Ich sorg dafür, dass uns das nicht passiert."

Mit einem tiefen Atemzug schob ich diese schlechten Gedanken weit fort von mir. "Okay." 

Ich hoffte, dass er Recht hatte. Ich wollte mir das gar nicht ausmalen! 

"Du kommst zu spät, wenn du jetzt nicht bald reingehst", erinnerte er mich. Jarvis sah so aus, als ob er eigentlich noch mehr zu sagen hatte, doch er hielt sich zurück. "Wir reden nach der Arbeit weiter."

Ich nickte zustimmend und machte mich schweren Herzens auf in den Kampf. Auf in meinen ganz persönlichen Albtraum namens Arbeit.

Die Empfangsdame warf mir einen abschätzigen Blick zu. Im Lauf der letzten Tage, hatte ich das Gefühl, dass ihre Nase jedes Mal etwas höher wanderte, wenn sie auf mich hinabsah. Ich biss die Zähne zusammen, versuchte ihre Missgunst zu ignorieren so gut es ging. 

Monika grüßte mich verhalten. Die erste Zeit arbeitete ich genauso schweigend vor mich hin wie die letzten Tage auch. Allerdings merkte ich, dass meine Kollegin heute extrem nervös war. Sie vertippte sich immer wieder, fluchte leise und kaute an ihren Nägeln, dass es mir schon vom Zuschauen wehtat. 

"Monika, alles klar bei dir?"

Sie zuckte zusammen. Ihr gehetzter Blick fuhr im Raum umher. Ihre Augen sahen wirklich überall hin außer mir ins Gesicht. 

In seinen FängenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt