"Vienna, bleib bitte noch eine Minute." Wie alles andere zuvor, was Ms Clark gelehrt hatte, überhörte ich auch fast diese Aufforderung.
Während meine Mitschüler ihre Sachen packten, wartete ich am Lehrerpult. Unsere noch junge Mathe-Lehrerin trug irgendwelche Sachen in ihrem Heft ein. Auch sie schindete Zeit bis wir alleine im Klassenzimmer zurückblieben. Zeit, die ich brauchte, die mir gerade zwischen den Fingern zerronn.
Ich trommelte ungeduldig gegen den Tisch als sie die Stille durchbrach. "Was ist los Vienna? Du bist noch abwesender als sonst", begann sie ihre Tirade. Ms Clark erwartete darauf doch nicht ernsthaft eine ehrliche Antwort. "Ein bisschen Stress", fasste ich mein katastrophales Privatleben zusammen.
"Ich will ehrlich zu dir sein. Bisher haben dich deine mündlichen Noten gerettet. Jetzt redest du seit Monaten kaum noch. Ist zuhause alles in Ordnung? Gibt es Mitschüler, die dir Probleme machen?" Langsam ging mir ihre mütterliche Neugier total auf die Nerven. Die Uhr über der Tür zeigte nur noch zehn Minuten Pause an. Ich musste noch etwas erledigen!
"Nein, Ms Clark. Ich bin einfach schlecht. Akzeptieren Sie das! Sobald Sie das Wort 'binomisch' in den Mund nehmen, reden Sie eine Fremdsprache für mich. Verstehen Sie?"
"Ja, aber ich glaube dir nicht ganz Vienna. Falls was sein sollte, Sir Smith, die Schülervorsorge leistet sehr gute Arbeit. Er wird dir zuhören..."
"Alles okay Ms Clark. Ich weiß wo sein Büro ist und werde mich an ihn wenden, wenn was sein sollte!", fuhr ich ihr dazwischen. Dann spielte ich eben ihr Spiel mit. Was konnte sie auch dafür? Ms Clark hatte erst vor einem Jahr an der Savannah High angefangen und wollte ihren Job richtig machen.
"Kann ich dir vielleicht noch Vorschläge geben, wo du dir Nachhilfe geben lassen könntest?" Nachhilfe? Ein breites Grinsen blühte in voller Pracht über meinen grimmigen Ausdruck. "Nein, danke. Ich glaube, ich weiß mir schon zu helfen." Und das meinte ich ernst. Ms Clark wirkte noch immer besorgt, dabei hatte sie mir soeben den Geistesblitz des Jahrhunderts beschert.
Nur noch fünf Minuten! Ohne Aufforderung verließ ich das Klassenzimmer. Mein Weg führte mich aus dem Schulgebäude, denn ich konnte mir kaum vorstellen, dass Simon seine Freizeit gerne mit seinen Mitschülern verbrachte. Ich rannte durch die Mengen. Suchte an Orten, hinter der Schule, die als verlassen galten. Doch außer verschwitzte Kleidung brachte es mir nichts.
Planänderung. Am Ende ließ ich mich bei unserer Eiche nieder. Shit! Ich hatte Louisa ganz vergessen. Sie würde es verstehen, wenn ich es ihr später erkläre.
Von hier aus behielt ich den einzigen Eingang akribisch im Auge. Simon musste ja irgendwie zurück zum Unterricht.
Die Sonne in Georgia brannte auch schon im März Löcher in die Haut. Andere beschwerten sich über den Sonnenbrand, ich erfreute mich an der gewonnenen Bräune. Zumindest solange bis Simons Augen die goldenen Strahlen in den Schatten stellten. Er kniff seine Lider schützend zusammen und doch stach das Grün Raubkatzen-artig heraus.
Wie hatte ich es geschafft diese Pracht nie zu bemerken? Und was dachte ich da eigentlich gerade?Es musste verstörend aussehen wie ich meinen Kopf schüttelte ohne einen sichtbaren Gesprächspartner. Nimm die Beine in die Hand, befahl mein Gehirn. Meine weißen Nikes wirbelten den Staub vom Boden.
Simons komplett schwarz gekleidete Rückansicht kam immer näher, oder besser gesagt, ich ihm. Ich streckte meine Hand nach ihm aus und berührte ihn zaghaft. Er zuckte zusammen, drehte sich dann aber langsam um. Seine Hände waren tief in der Jeans vergraben und diesmal schien er nicht so überrascht wie noch am Morgen.
Mein Zunge fuhr über die spröden Lippen, aber mehr tat mein Mund nicht. Mir fehlten die Worte. Eigentlich fragte ich mich mit jedem Atemzug, was ich hier überhaupt vorhatte.
Mir wurde des öfteren impulsives Handeln nachgesagt. Handelte ich gerade impulsiv? Der Plan war doch gut durchdacht; So gut wie es mir die neunzig Minuten Mathe-Unterricht ermöglichten. Das musste reichen, beschloss ich.
"Ich brauche Nachhilfe. Dringend", platzte ich mit dem indirekten Problem heraus. Die Wahrheit wäre gewesen, dass ich ihn brauchte, um seinen Bruder in Eifersucht schmoren zu lassen. "Aha." Seine zuckenden Schultern betonten nur noch mehr sein nicht vorhandenes Interesse.
"Jetzt wo Preston weg ist, möchte ich mich auf die Schule konzentrieren. Mir ist mit deinem Bruder gar nicht aufgefallen wie schlecht es um meine Versetzung steht. Bitte, Simon", drückte ich auf die Mitleidstube. Meine mündlichen Leistungen hatten mich bisher gerettet nach Ms Clarks Aussage. Hoffentlich würden sie auch diese undeutbare Miene erweichen lassen.
"Vienna..." Das Ende meines Namens verlor sich in einem verächtlichen Lacher. Simon bändigte seine wilden Strähnen hinter seine Ohren. "Du hättest zu jedem anderen schlauen Köpfchen, oder zu einem Nachhilfekurs gehen können, aber nein, du suchst mich; den Bruder deines Ex-Freundes. Das ist schon ein wenig auffällig, meinst du nicht?"
Natürlich. Wie konnte ich, Vienna Elizabeth Becker denken, dass ich den Schlauberger höchst persönlich verarschen könnte. Mein Mund blieb offen stehen. Mehr als heiße Luft entfloh ihm allerdings nicht.
"Hör zu. Ich habe keine Lust in euer Drama verwickelt zu werden. Und wenn ich dir einen Rat geben darf. Halt dich fern von allem was de Gailly heißt. Ist nur zu deinem Besten. Ciao."
Er setzte einen großen Schritt zurück, dann präsentierte er mir seinen Rücken.Bravo. Einfach fantastisch. Mein innerer Teufel klopfte mir unglaublich amüsiert auf die Schulter. Erst hatte mich der ältere de Gailly zum Affen gemacht und jetzt der jüngere. Was dachten sie bitte, wer sie sind?! Meine Fäuste zitterten. Ein spitzer Schmerz bohrte sich in das Fleisch meiner Handflächen.
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My Boyfriend's Brother
Teen FictionWer die Menschen so behandelt, wie sie sind, der macht sie damit schlechter. Wer aber die Menschen so behandelt, wie sie sein könnten, der macht sie damit besser. _____________________________________ Ich, Vienna hatte den ultimativen Plan, um ihn z...