Meine Gedanken hingen immer noch am gestrigen Abend. Bevor das Müsli meinen Mund erreichte, fiel das meiste wieder zurück in den Teller.
"Es tut mir leid." Seit der offiziellen Trennung meiner Eltern, waren das die ersten Worte meiner Mutter, die an mich gingen. Verwirrt, blinzelte ich einige Male. Die Entscheidung, dass ich hier bleiben muss, ohne meine Mitwirkung, oder die ständige Unzufriedenheit, aber vielleicht auch die Ignoranz, an der sie mich ihr Leben lang teilhaben lässt. Was von diesen Dingen tat ihr denn leid?!
"Ich habe gestern gelauscht." Die Liste verlängerte sich also.
"Und dir tut leid, dass du heimlich mitgehört hast, oder dass du meinem Ex-Freund eingeredet hast, er sei nicht gut für mich?", meinte ich schnippisch. "Beides", gab sie zu und heute versteckte sie sich beim Frühstück nicht hinter ihrer großen Kaffeetasse. Ganz im Gegenteil. Es stand nichts zwischen uns und Mom schaute mir direkt ins Gesicht. Sie wollte es wirklich klären. Solch kleine Gesten bedeuteten viel, den Mom war einer der stolzesten Menschen, die ich kannte.
Mein Kopf versuchte mir einzureden, dass ich wütend sein sollte, doch mein Herz schlug ausgeglichen vor sich hin.
Ich kannte auch den Grund, aber Mom Recht zu geben, fiel mir genauso schwer wie ihr, sich bei mir zu entschuldigen. Naja, wenn sie es schaffte, dann ich auch."Vielleicht war es nicht richtig, so zu handeln, aber mit deiner Meinung über Preston lagst du ja nicht falsch. Auch, wenn es sich leicht und sicher bei ihm angefühlt hatte, er hatte mich ein stückweit untergraben. Ich durfte mich hinter ihm klein machen und bin letztendlich auch klein geworden." Es zuzugeben, schmeckte bitter. So bitter, dass mir der Appetit verging. Der Löffel landete klirrend im Teller und ich sank im Stuhl in Richtung meines Niveaus.
"Schätzchen, keiner hat jemals daran gezweifelt, dass ihr euch liebt. Liebe ist nur nicht alles. Es muss auch passen."
Wir verfielen der Stille. Mom wahrscheinlich, weil sie sich an ihre eigene gescheiterte Beziehung erinnerte und ich, weil ich die Liebe nicht mehr verstand. Sie verwandelte sich von Tag zu Tag mehr in ein unlösbares Mysterium.
"Als du mir auf die Brust gelegt wurdest, da wusste ich, dass ich alles richtig gemacht habe. Später, als kleines Mädchen warst du immer so ruhig und unsicher. Ich habe mir immer die Schuld dafür gegeben, weil dein Dad und ich uns so oft vor dir gestritten haben. Aber dann, nachdem du in die erste Klasse gekommen bist, da bist du so aufgeblüht."
Mom fing vor Schluchzern an zu zittern, so dass ich nicht anders konnte, als ihre Hand in meine zu nehmen.
"Ich kenne dein Potential, deinen Mut und deine Intelligenz. Du kannst so viel erreichen und brauchst keinen Mann, der dir das Gefühl vermitteln muss, beschützt zu werden." Sie drückte meine Finger so sehr zusammen, dass es schmerzte, aber ich hielt es aus, weil es Mom gerade Kraft schenkte.
"Und ich will nur, dass du weißt, dass ich unendlich stolz auf dich bin und immer war", beendete sie ihre Rede.
Mich überkam eine Gänsehaut und gleichzeitig ein Gefühl der Stärke. So ein Gespräch hatte ich mit Mom noch nie geführt und jetzt wünschte ich mir, dass es niemals enden möge. Ich spürte eine tiefe Verbundenheit, die eigentlich schon immer da war, aber unter der Angst vor Ablehnung und Selbstzweifeln geschlummert hatte.
"Ich wollte dich nicht verletzen, Mom, aber ich dachte, du bereust, mich bekommen zu haben. Sonst wäre ich wahrscheinlich gerne bei dir gewesen, weil ich dich so lieb habe."
Mom bekam keinen Satz mehr über die Lippen. Ihr Kinn zitterte. Sie breitete nur ihre Arme aus, als Zeichen, dass ich in sie flüchten dürfte. Ich sprang auf und eilte zu ihr.
Sie riss mich auf ihren Schoß und drückte mich an ihre Brust. Während ihr Herzschlag in meinen Ohren pochte, streichelte sie mir beruhigend über die Haare. "Mein kleiner, großer Schatz", flüsterte sie. In meiner Magengegend entstand Wärme. Eine, von der ich mir sicher war, dass sie nie verschwinden würde.Wir saßen noch eine Weile so da, bis die Uhr uns auseinander riss. Definitiv kam ich zu spät zur Schule und definitiv war es mir wert gewesen.
Ich zog mir im Flur noch schnell die weißen Nikes über. "Bis dann Mom!", schrie ich und erschrak. Meine Mutter war mir gefolgt und stand nun genau hinter mir.
"Noch was, Vienna. Ich weiß, ich sollte mich nicht mehr einmischen und das tue ich eigentlich auch gar nicht. Du hattest gestern ein klärendes Gespräch mit Preston. Meinst du nicht, Simon hat auch eins verdient?"
Das stimmt, aber was sollte ich ihm sagen? Mein Herz fuhr Achterbahn, wenn es um ihn ging, aber für eine Beziehung war ich nicht bereit. Ich musste mich erstmal um meine eigenen Wunden kümmern, auch wenn es Simon gegenüber ungerecht war. "Du schickst mich zu den de Gaillys? Hast du Fieber, Mom?!" Ich tätschelte ihre Stirn und lachte. Vielleicht floh ich auch einfach vor dem Jungen mit den wunderschönen grünen Augen.
Meine Beine trugen mich jedenfalls davon, Richtung Schule. Dort traf ich Isi an der Eiche. Um Simon nicht zu begegnen, flüchteten wir gleich in den Klassenraum. Dort lief bereits irgendein Film. Die Lehrer wussten auch nicht mehr, wie sie die Zeit zwischen den Prüfungen und dem Abschluss überbrücken sollten.
Nach Schulschluss begab ich mich zum Musikraum. Ich hatte sowas wie eine Mission, oder besser gesagt eine felsenfeste Überzeugung. Die Frauen-Initiative traf sich eigentlich jeden Mittwoch, deswegen überraschte es mich, auch heute auf drei bekannte Gesichter zu treffen. Shannon, Maria und Lilly saßen dicht bei einander an einem Tisch.
"Ich hoffe, ich störe nicht", warf ich in den Raum. Alle Köpfe schwangen hinauf. "Hey Vienna. Quatsch, nein. Shannon ist fertig mit ihrem Brief an sich selbst und wollte ihn mit uns überarbeiten", erklärte Lilly mit einem herzlichen Lächeln. Wieso ist sie eigentlich keine Schulsprecherin? schoss es mir durch den Kopf. Sie kümmerte sich aufopfernd um ihre Mitschüler, erkannte Probleme und fand eine Art, sie für jeden adäquat zu lösen.
Darauf steckten sie ihre Köpfe wieder zusammen. Ich kümmerte mich nicht weiter darum, sondern packte meinen Block und ein paar Bleistifte aus. In meinen Ohren landeten Kopfhörer und mit der Musik, tauchte ich in eine andere Welt ab. Das Graphit verteilte sich auf dem weißen Blatt. Feine Linien zogen Kurven, mal tief schwarze, dann wieder graue. Das Bild, welches ich abstrakt wiederbelebte, hatte sich in meinen Geist eingebrannt.
Mein Körper wurde wie ein Problem dargestellt, etwas für das ich mich schämen sollte. Nun erfüllte mich jeder gezeichnete Millimeter mit Stolz.
Nachdem mich jemand antippte, ließ ich den Bleistift fallen. Die Mädels standen mit großen Augen hinter mir. Ich riss die Stöpsel aus meinem Gehörgang. "Sorry, wir wollten dir nur mitteilen, dass wir gehen", sprach Lilly.
"Wow, Vienna... Das ist echt mutig und großartig... Ist das, das Nacktfoto, nur unkenntlich gemacht, oder so?", flötete Maria los. Sie sagte, was sie dachte, unverarbeitet und ehrlich. Irgendwie mochte ich das, auch wenn sie Menschen so verletzen konnte. Lieber durch eine Wahrheit verletzt, als durch eine Lüge.
"Das ist kein Nacktfoto, Maria. Das ist unsere Vienna, genauso wie sie ist. Mutig, selbstbewusst, ehrlich und wunderschön. Kommt wir stören sie nicht weiter." Lilly berührte mich mit ihren Worten. Sie zwinkerte mir zum Abschied zu, ehe sie die anderen beiden Richtung Tür zog.
Ich setzte noch die letzten Striche der Skizze. Die späte Mittagssonne schickte ihre Strahlen über das Papier. Das Licht schmiegte sich in meine schwarzen Kurven.
Mutig, selbstbewusst, ehrlich und wunderschön.
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My Boyfriend's Brother
Roman pour AdolescentsWer die Menschen so behandelt, wie sie sind, der macht sie damit schlechter. Wer aber die Menschen so behandelt, wie sie sein könnten, der macht sie damit besser. _____________________________________ Ich, Vienna hatte den ultimativen Plan, um ihn z...