Ich hatte mich tatsächlich dafür entschieden und ich zweifelte an meiner Entscheidung.
Immernoch liefen nach Schulschluss kleinere Grüppchen im Flur an mir vorbei. Man konnte nicht leugnen, dass ihr Blick an mir hängen blieb und verdammt nochmal, ich wusste was sie dachten.
Das Mädchen mit dem Nackfoto sucht sich verzweifelt Hilfe bei der Frauen-Initiative. Ein Ort, wo jedes weibliche Opfer landet. Aber ich wollte niemals ein Opfer sein, sondern viel mehr das Gegenteil. Mit dieser Aktion stopfte ich mich wohl selbst in eine Schublade.
Mein Gesicht versteckte sich unter den Gardinen von Haaren, während meine Nägel am Türrahmen herum puhlten. Da hatte ein untalentierter Maler kleine gelbe Klekse auf dem Marineblau verteilt.
"Schön, dass du da bist." Lillys Stimme erklang glockenhell wie die einer kleinen süßen Tinkerbell. Doch spätestens nachdem sie mich vorgestern mit ihrer Frauenarmee überfallen hatte, wusste ich das sie viel mehr als eine unscheinbar-winzige Fee war.
Ohne meine Reaktion abzuwarten, schloss sie den Musikraum auf.
Vielleicht war das der Grund, weshalb ich es schaffte, mich zu diesem Treffen zu überreden. Der Musikraum weckte Dank Louisa stets warme Gefühle in mir. In diesen vier Wänden vernahm ich überall ihre Präsenz. Ich konnte ihre Stimme in meinem Inneren abrufen und mich in ihrer hinterbliebenen Aura zuhause fühlen.
Deshalb begab sich mein Hinterteil wohl instinktiv auf den Stuhl, der dem Mikrofon am nähsten stand.
Die Frauen verfielen sofort in reges Treiben. Die einen malten irgendwas, manche schrieben und andere diskutierten. Ich war wohl mitten in ein laufendes Projekt geplatzt.
"Grüß dich Vi, freut mich dich kennenzulernen." Ein großes, kräftig gebautes Mädchen zu meiner linken streckte mir ihre Hand entgegen.
Ihre feuerroten Locken schimmerten in den selben Nuancen wie ihre Sommersproßen. Ich gab ihr meine Hand und sie drückte herzlich zu.
"Freut mich auch...?", ließ ich es offen, um ihren Namen herauszubekommen."Shannon", beendete sie meinen Satz und zog sich anschließend wieder an ihren Platz zurück.
"Was macht ihr da?", traute ich mich nach einer Weile Shannon zu fragen.
"Irgendwas", gab sie zurück ohne von ihrem Blatt aufzusehen. Neugierig wie ich war, versuchte ich einen Blick darauf zu erhaschen.Das ist kein Fett, dass sind zweihundert Pfund Freundlichkeit, Offenheit und Mut in einzigartigen Kurven verpackt.
Ich bin kein Mann, nur weil ich breite Schultern habe. Ganz nebenbei, meine Hüften sind mindestens genauso breit. Darüber hinaus habe ich Brüste und trage manchmal sogar Lipgloss. An erster Stelle bin ich einfach nur Mensch, der sich als stolze Frau identifiziert.
Den Rest verdeckte sie mit ihrem Arm. Augenblicklich kam mir in den Sinn, was ihr bereits an den Kopf geworfen wurde, dass sie so eine Art Antwort darauf schrieb. Es war nicht wirklich ein sexuelles Vergehen und doch griff es in ihre Privatsphäre ein.
"Entschuldigung, wenn ich euch unterbreche, aber ich wollte dir kurz unseren chaotischen Verein hier erklären, Vienna." Wie aus dem Nichts entdeckte ich Lilly als meine neue Sitznachbarin. Ihre feine kleine Nase streckte sich stolz der Decke empor. Auf ihren schmalen Lippen lag jedoch ein sanftes Lächeln.
"Es mag zu Beginn überfordernd wirken, wenn man so ins Geschehen hinein geschmissen wird, aber wir haben so die besten Erfahrungen gesammelt. Klar, hätten wir auch einen Sitzkreis machen können, wo jeder sich vorstellt und wir dir erklären, was wir hier gerade tun, aber das erweckt immer so den Eindruck von Frauen, die sich treffen, weil sie ein Problem haben. So ähnlich wie bei den anonymen Alkoholikern eben... ", suchte sie nach einem geeigneten Vergleich.
"Aber wir haben kein Problem. Wir sind einfach nur Frau und hier um uns frei zu entfalten. Es gibt nur eine Regel: Respekt. Ansonsten, fühl dich frei kennenzulernen, wen du möchtest und dich auszudrücken, wie du möchtest.
Die Liebe Shannon hier zum Beispiel, will einen Text verfassen, um ihn dann bei der Abschlussrede vorzulesen." Die Erwähnte lunzte kurz zu uns rüber, versank dann aber wieder höchst leidenschaftlich in ihrer Arbeit."Da vorne die Mädels reden einfach nur miteinander. Irgendwas muss da vorgefallen sein..." Lilly runzelte nachdenklich die Stirn, bevor sie die letzte Gruppe mit ihren Augen erreichte. "Und die da bei mir am Pult, wir wollen persönliche Plakate gestalten und sie demnächst irgendwann aufhängen."
Gut, oder auch nicht. Auch nach Lillys Ansprache wusste ich nicht, wohin mit mir.
Sie musste es meinen durch den Raum zuckenden Iriden angesehen haben. "Hetz dich nicht. Wenn es dein Bedürfnis ist, dann bleib hier sitzen und beobachte ein wenig. Und wenn das alles nichts für dich ist, dann geh. Das wichtigste, was du lernen solltest ist, dass du auf deinen eigenen Körper und Geist hörst. Ganz egal, was die anderen davon halten werden. Man muss manchmal der eigenen Stimme nachgeben und tun, was man will und braucht."
Lilly nickte im Nachhinein als müsste sie sich selbst bestätigen. Mir schien es so als würde sie häufiger erst reden, bevor sie nachdenkt. Das tat sie dann immer im Anschluss, weshalb sie auch dann noch kurz sprachlos und verträumt an meinem Tisch verweilte, ehe sie zu ihrem Pult zurück ging.
Wenn ich drauf los schießen würde, ohne die Sätze vorher abzuwägen, dann würde da bestimmt nur Dummes dabei rauskommen. Obwohl das tat es ja sowieso immer. Leider Gottes war ich ja selbst eine impulsive Person. Nur eben weniger was das Reden angeht, sondern eher das Handeln.
Lilly schaffte es irgendwie immer das Richtige zu sagen. Das bewunderte ich sofort an ihr. Sie besaß Führungsqualitäten und erinnerte mich dabei an meine Mom. Nur eben an eine freundliche Version dieser...
Was will ich? Hier sein. Genau das wollte ich. Hier starrte mich keiner an, obwohl der kleine Musikraum vor Menschen zu platzen drohte.
Die Mädels hier arbeiteten an sich selbst, anstatt die Fehler bei anderen zu suchen. Ich fühlte mich weder verängstigt, noch verurteilt in deren Mitte.Meine Lungen füllten sich mit Luft, leerten sich wieder und das in einem regelmäßigem Takt. Ja, es tat gut hier zu sein. Definitiv. Das spiegelte sich wohl auch in den kleinen Grübchen wider, die plötzlich in meinem Gesicht entstanden.
Eigentlich zog es mich zu den Plakaten und dem Duft von frischem Acryl, aber noch bevor ich dort ankommen konnte, erreichte mich eine weitere Stimme.
"Huhu Vi, sag mal wie ist es für super Beliebte? Merkt ihr eigentlich, dass ihr total beliebt seid, oder fühlt ihr euch so ganz normal irgendwie? Ich weiß, das ist 'ne dumme Frage."
Das schwarzhaarige Mädchen klatschte sich die flache Hand ins Gesicht. Anscheinend bereute sie schon ihren Mund geöffnet zu haben, doch ich fand es nicht schlimm.Ich bog scharf ab, um mich zu den Mädchen zu gesellen, die eben noch über ein scheinbares Problem diskutierten.
"Nein, ist kein Ding. Preston ist der Beliebte, nicht ich. Seit dem wir nicht mehr zusammen sind, wollen mich viele am Boden sehen. Glaub ich zumindest..." Das Geflüster, die dummen Kommentare, das Nacktfoto...
"Sie möchten testen, wo du alleine stehst. Deswegen wollte ich erst gar nicht auf eine Stufe mit meiner Cousine gestellt werden. Chloe, müsstest du ja kennen. Übrigens, du bist darüber unterrichtet worden, dass alles was in diesem Raum passiert, in diesem Raum bleibt?"
Ich nickte und schmunzelte dabei. Die geheime Cousine wird ein Geheimnis bleiben, dachte ich mir.
Es wunderte mich nur, da rein äußerlich gar keine Ähnlichkeit bestand. Das schwarzhaarige Mädchen würde direkt als Latina durchgehen, aber Chloe war blonder als blond. Obwohl... Da erinnerte ich mich auch daran, dass Chloe immer mit ihren lateinamerikanischen Wurzeln geprahlt hatte, wenn sie auf ihren gebräunten Teint angesprochen wurde. Das wöchentliche Solarium tuts auch, wollte ich damals immer beifügen.
"Man nennt mich übrigens Maria Marquez." Gespielt aufgesetzt wirbelte sie ihre Haare zurück. "Vienna, aber nennt mich Vi. Steht übrigens nicht für Vienna, sondern VIP." Dabei überschlug ich genauso grazil meine Beine übereinander, worauf wir allerdings höchst undamenhaft zu grunzen begannen.
Alle Zweifel waren wie weg gefegt.
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My Boyfriend's Brother
Novela JuvenilWer die Menschen so behandelt, wie sie sind, der macht sie damit schlechter. Wer aber die Menschen so behandelt, wie sie sein könnten, der macht sie damit besser. _____________________________________ Ich, Vienna hatte den ultimativen Plan, um ihn z...