𝐇𝐞𝐚𝐥

162 15 9
                                    

Unter einem Kastanienbaum stand eine Bank. Sie stand schon seit meinem ersten Schultag dort neben dem Schulgebäude; lediglich getrennt von der Hauptstraße.
An meinem zweiten Schultag hatte ich bereits erfahren, dass die Seniors dort kifften. Aber nur während dem Unterricht. In der Pause hätte die Aufsicht die Rebellen dort erwischt. Deswegen nutzte ich diese um dort zu sein.

Ich brauchte Abstand zu Preston, aber auch zu Louisa. Die Heilung musste erstmal in mir passieren, irgendwie. Manchmal verstand ich selbst kaum, was ich brauchte, doch Einsamkeit fühlte sich zur Zeit richtig an.

Am Donnerstag stand der letzte Mathetest vor der Abschlussprüfung an. Ich verzweifelte fast, denn ich schlug mich noch immer mit den binomischen Formeln herum, während sie nur die Vorarbeit für die eigentlichen Aufgaben waren. Naja, dann wird es wenigstens einen halben Punkt pro Rechenweg geben. Und auf der anderen Seite warteten da noch Grammatik, der zweite Weltkrieg, Flüsse und Berge von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Erstmal Mathe, stoppte ich das Desaster in meinem Kopf.

Ich hob meine Füße auf den Rand der Bank, um mein Buch noch näher vor der Nase zu haben. Möge das Wissen darin eine telepathische Verbindung zu meinem Hirn aufbauen...

"Hey." Als Simons Stimme wie aus dem Nichts erklang, fiel mir das Buch vor Schreck aus den Armen. "Oh verzeih", entschuldigte er sich, nachdem er den Abstand überbrückte, um mir das Buch hoch zu reichen. "Ist nicht schlimm", gab ich planlos zurück. Was machte Simon überhaupt hier?

Er setzte sich zu mir. Seine schwarze Jeans streifte mein nacktes Bein. Eine Weile saß er einfach da und ich tat so als ob ich lesen würde, weil mich die Situation mehr als verwirrte.

"Jetzt weiß ich, wo die Schwierigkeiten herkommen." Simon wirkte amüsiert, sein Blick galt aber nicht mir, sondern dem Mathebuch. Er nahm es mir aus den Händen und legte es andersherum wieder hinein. Nun lag es richtig herum. Ups.

"Ist alles in Ordnung bei dir?", wollte er wissen. Simon musterte wieder jede Regung meiner Mimik. Es musste ihn wahrhaftig interessieren. Nun ja, ich war weder bei meiner beliebten Truppe, noch bei meiner besten Freundin. Das ist noch nie vorgekommen. Und ausgerechnet Simon mit dem ich so gut wie nichts zu tun hatte, suchte mich und fragte nach meinem Befinden. Die Tatsache, dass mich scheinbar keiner brauchte, nicht mal Louisa, verdrängte ich.

"Keine privaten Fragen. Ich meine, das hätte mal jemand gefordert", witzelte ich ohne den Hauch einer Belustigung zu verspüren. "Unser Haus ist zwar teuer, aber der Ingenieur hat es wohl trotzdem nicht so genau mit der Schallisolierung genommen", deutete Simon etwas an, dass ich im ersten Moment nicht verstand. Ich gab es auf in seine Gras grünen Augen zu schauen, die unterstrichen von der Brille so viel Überlegenheit ausstrahlten. Er musste mich für dumm halten.

"Ich habe eure Unterhaltung mitgehört. Tut mir leid", klärte er mich auf. Dabei zögerte er vor dem Wort Unterhaltung. Preston hatte nämlich kaum was zu sagen gehabt, was auch Simon aufgefallen sein muss. Für ihn war unsere Trennung von Anfang an okay.

"Wenn es wahre Liebe gewesen wäre, dann hättet ihr beide gekämpft. Sorry, Vienna und du kennst Preston. Wenn er was haben, oder behalten will, dann wird er das auch. Es sei denn, er will es gar nicht wirklich. Ich hoffe du kannst drüber stehen." Die Wahrheit schmerzte. Simon war sein Bruder. Er kannte ihn. Ich veratmete die Attacke auf mein bröckelndes Herz, damit es nicht wieder mit Tränen endete.

"Wie dem auch sei... Sehen wir uns dann morgen? Ich kann auch zu dir kommen, wenn es für dich angenehmer ist." Egal was, nur geh.
Wie eine Irre nickte ich vor mich hin, nur um diese Konversation schnellstmöglich zu beenden.

So scharfsinnig wie Simon nun mal war, verstand er schnell. Er sprang wie von einer Tarantel gestochen auf und ging. Dabei murmelte er ein
"bis morgen" vor sich hin. Ein Genie im Umgang mit Zahlen, aber eine Katastrophe in Sachen zwischenmenschliche Beziehungen. Obwohl er es gut gemeint hatte, bestätigte Simon mir nur noch ejnmal mehr, dass jede Sekunde, jede Berührung, jedes Lächeln, jedes Gefühl in den letzten drei Jahren reine Verschwendung war.

Es quälte mich am meisten, dass es keine Ablenkung gab. Egal in welche Richtung ich blickte, nirgends strahlte mir ein kleines Fünkchen Glück entgegen. Louisa hasste mich, oder viel mehr das, was aus mir geworden war. Mein Vater ließ sich schon seit mehreren Tagen nicht blicken, was meine Mutter rasend stimmte. Und Preston fehlte weiterhin in jedem noch so kleinen Winkel meines Zimmers und vor allem meiner Welt.

My Boyfriend's Brother Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt