"Ich kann da jetzt nicht raus", flüsterte ich mit einer gewissen Aggression in der Betonung. "Tja, zu schade, dass das mein Zimmer ist", konterte der Bruder meines Exfreundes.
Ich wandte mich von der Tür ab und unsere Blicke begegneten sich. Seine Augen erinnerten mich an das Grün der Wiesen, wenn der Frühling erwachte. Er schob die Brille hoch und wirkte mit einem Mal noch strenger.
"Tut mir leid, dass ich euch beim Lesen störe, Hoheit." Zumindest nahm ich das an, denn er lag auf seinem Bett und ein offenes Buch auf seinen Knien. "Das ist ein Notfall!", fügte ich noch hinzu.
"Ist dir ein Nagel abgebrochen? Oder warte, ist dir aufgefallen, dass dein Rock nur die Hälfte deiner Pobacken bedeckt?" Reflexartig zupfte ich an dem karierten Stoff. Eben stand ich noch gebeugt vor der Tür und nun schämte ich mich in Grund und Boden. Konnte es das Universum einmal gut mit mir meinen?
Außerdem lag ich wohl all die Zeit richtig in der Annahme Simon könnte mich hassen. "Weder, noch", gab ich patzig zurück.
Ich schob meine Arme bedeckend vor meinen Körper. Mir wurde erst jetzt klar wie nackt ich doch eigentlich war. Eine unangenehme Stille entstand, in der ich nur den grauen Vinylboden musterte.
"Was ist dann dein Problem?" Er schlug einen friedlicheren Ton ein.
"Ich kann unten nicht raus." Ich tat es ihm gleich. Zu meiner Verwunderung fragte er nicht nach dem Grund. Wahrscheinlich ahnte er es bereits.Sein Schatten zog an mir vorbei. "Komm", forderte er und ich folgte. Zunächst versicherte ich mich jedoch, dass wir die einzigen im Flur waren. Simon zog einen Schlüssel aus seiner Jogginghose und schloss die Tür gegenüber auf.
"Du hast das Badezimmer abgeschlossen?", wollte ich wissen.
"Die Idioten können unten die Gästetoilette voll kotzen", antwortete er. Diese Information würde mir am nächsten Tag ein Herpesbläschen entlocken, aber ich verstand.Er schloss den Raum hinter uns wieder ab und schaltete dann das Licht ein. Während ich wehleidig meine Zahnbürste auf dem Waschbecken entdeckte, tätigte Simon noch einen weiteren Schalter.
Ein mechanischen Summen ertönte. Das Fenster an der Decke über der Dusche öffnete sich. Mir schwante Böses."Simon, ich geh nicht auf euer Dach."
"Dann musst du unten raus." Er zuckte lediglich mit den Schultern. Ich begutachtete nochmal das Fenster und vor allem die Höhe. "Eure Decke ist bestimmt fast drei Meter hoch", stellte ich fest. Als Antwort klopfte er auf seine Schultern. Nein! Passend zu meinen Gedanken schüttelte ich meinen Kopf. Niemals würde ich in diesem Rock auf seine Schultern steigen; von meiner Höhenangst ganz zu schweigen."Also ich bleibe jetzt noch genau zwei Minuten, dann gehe ich", stellte er mich erbarmungslos vor die Qual der Wahl.
Eigentlich brauchte ich keinen Gedanken zu verschwenden. Ich würde nicht wählen. Es gab nur diesen Ausgang, denn runter wäre ich nicht gegangen.
Simon stand von Beginn an in der Dusche. Obwohl er mich kaum kannte, schien er meine Entscheidung schon zu kennen. Ich ging zögerlich auf ihn zu. Er schob sich seine Haarspitzen hinter die Ohren, verzog sonst aber keine Miene.
Eines seiner Knie landete auf dem Boden. Simon kniete vor mir wie vor einem Heiratsantrag und zugegeben wahrscheinlich war ich auch genauso aufgeregt wie eine zukünftige Braut.
"Kannst du mir versprechen, dass das unter uns bleibt?" Mein Zeigefinger wanderte von ihm zu mir und wieder zurück. "Das liegt ganz in meinem Interesse."
Ich bezweifelte, dass wir es schaffen würden. Meine sportlichen Leistungen waren okay, aber Simon wirkte zierlich und bestimmt zwanzig Zentimeter kleiner als Preston.
Lieber Gott im Himmel, meine Eltern sind so gut wie geschieden. Mein Freund hat mich eiskalt abserviert. Bitte lass wenigstens meinen Kopf nicht auf diesen teuren Fliesen der de Gaillys aufkommen. Amen.
Vorsichtig bestieg ich Simons Schultern. Zum Glück hatte ich mich an jenem Abend für Sneaker anstatt Highheels entschieden.
Meine Hände tasteten die Wand entlang, da entfloh mir ein spitzer Schrei. Simon ließ mir keine Sekunde, um mich an die neue Höhe zu gewöhnen. Er zitterte unter mir wie ein Erdbeben, doch er kam auf beide Beine. Mein Kopf wäre dabei fast gegen die Wand geknallt, aber na gut...
Ich klammerte mich gleich am oberen Rand fest und um mich für den schnellen Antrieb zu bedanken, stieß ich mich extra wuchtig von seinen Schultern ab. Mein Körper schlüpfte locker durch das Quadrat zur Freiheit.
Allerdings schürfte ich mir die Knie bei der Landung auf. Shit!"Alles okay da oben?!" Er musste mein schmerzvolles Aufzischen mitbekommen haben. Wie eine gebärende veratmete ich das Brennen, dass sich wie ein Lauffeuer über meinem Gelenk verbreitete.
Sei nicht das Opfer, das sie haben wollen Vienna! Ich riss mich zusammen, obwohl mir nach kotzen zumute war.Simons besorgter Blick lag auf meinem, nachdem ich durch die Öffnung hinab lugte. "Alles bestens!", log ich und das hoffentlich besser als Kylie Jenner, als sie behauptet hatte, ihre Lippen wären nicht aufgespritzt.
Zum ersten Mal in unserer langen Bekanntschaft schenkte ich ihm ein Lächeln, selbst wenn es nicht ganz so echt war. In meinen Augen brannten schon wieder hinterlistige Tränen, ehe ich mich abwandte.
"Vienna, warte!" Ich kehrte noch einmal um. Simon hielt mir schwarzen Stoff entgegen. "Jetzt nimm schon", verlangte er kurze Zeit später. Mein Arm streckte sich in den Raum. Meine Finger schmiegten sich in die Baumwolle und Simon stand nur noch in einem grauen T-Shirt da. Eins plus eins waren folglich zwei. Er hatte mir den Pullover gegeben, den er eben selbst noch getragen hatte.
Ich drückte sein Oberteil unbewusst an meine Brust. Erst jetzt erwischte mich die noch kühle Frühlingsbrise. Simons Augen schimmerten magisch; so als würde das Meer aus Smaragden bestehen. Ganz plötzlich beendete er mein dummes Starren, nickte mir zu und verzog sich dann.
Das mechanische Surren erklang erneut. Die Hölle schloss also ihre Forte. Ich war offiziell frei; frei von Preston.
Der Pullover landete auf meinen Schultern und hing locker unterhalb meiner Hüften. Der Reißverschluss folgte. Mein Wunsch nach Wärme und Geborgenheit wuchs bis ins Unermessliche. Gleichzeitig war mir klar, dass keine Wärme dieser Welt diese Leere füllen würde.
Es gibt nie einen Gewinner nach einem Krieg. Das Ergebnis ist immer ein Verlust und Leid. Ich hatte Preston verloren und er mich. In der trauten Einsamkeit schwamm der Schmerz an die Oberfläche.
Alles was ich tat, ob ich die Feuerleiter hinunter kletterte, oder mitten in der Nacht durch die leeren Straßen spazierte, ich tat es ohne Kopf. Meine Gedanken waren stumm gestellt, um mein Herz nicht noch weiter mit toxischen Gedanken zu vergiften. Und trotzdem spürte ich mit jedem Windzug die heißen Tropfen auf meinen Wangen.
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My Boyfriend's Brother
Novela JuvenilWer die Menschen so behandelt, wie sie sind, der macht sie damit schlechter. Wer aber die Menschen so behandelt, wie sie sein könnten, der macht sie damit besser. _____________________________________ Ich, Vienna hatte den ultimativen Plan, um ihn z...