𝐋𝐞𝐭 𝐈𝐭 𝐒𝐧𝐨𝐰

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Klassenfahrten hatte ich schon immer mit schäbigen Zimmern und schlechtem Essen verbunden, doch bei unserer letzten offiziellen Reise hatten sich die Lehrer wahrlich Mühe gegeben.

Louisa tanzte durch unser Zimmer und hängte dabei ihre letzten Kleider in den Schrank. Aus unserem Bluetooth-Lautsprecher erklang laut das Lied 'Teenage Dirtbag'. Auch mein Fuß schwang im Beat mit, aber ich konnte mich nicht darauf konzentrieren.

Ich hatte mich extra beeilt meine Kleidung in den Schrank zu schmeißen, nur um für ein paar Minuten auf der Fensterbank sitzen zu können. Neben uns reihten sich einige weitere typische Blockhütten zusammen. Die interessierten mich allerdings auch nur wenig.

So viel Schnee hatte ich nämlich noch nie gesehen. Als würden wir hier oben auf dem Berg mitten auf einer flauschigen Wolke leben. Endloses Weiß bedeckte die ganze Landschaft.

"Wir müssen los kleine Träumerin", holte meine beste Freundin mich aus der Faszination. Unser Bus kam gerade rechtzeitig zum Abendbuffet an.

Im Treppenhaus fügte sie noch hinzu, "Dave wartet schon vor unserem Haus." Ich nickte abwesend und umschloss meine Finger um das dunkle Holz. Sie hatten selbst gebastelte Schneeflocken am Geländer aufgehängt, die ich bewunderte. Nicht oft wurde so auf Details geachtet, aber dann kam mir wieder in den Sinn, was Louisa eben sagte. "Ihr habt Nummern getauscht?", wollte ich wissen. Dabei konnte ich es nicht lassen, spielerisch mit den Brauen zu wackeln. "Er scheint nett zu sein", gab Louisa darauf zurück, ohne ihr Gesicht zu verziehen.

"Also ich könnte jetzt drei Pizzen verdrücken", empfing uns Dave draußen, während er seinen Bauch rieb. Wie viel konnte er essen? Er hatte sich bereits im Flieger fünf Sandwiches gegönnt. "Mir würde auch ein Salat reichen. Nach so langen Reisen habe ich nie wirklich Appetit", erzählte Isa und ich fiel mal wieder ganz aus der Reihe. Mir war gerade nach was Süßem. "Meint ihr die haben da Crêpes, oder belgische Waffeln mit Schokolade?"
"Ufff ja, das wär's ja komplett!", schwärmte auch Dave.

Um zur riesigen Cafeteria zu gelangen spazierten wir über einen frei geschaufelten Pfad. Der Schnee um uns herum glänzte wie eine Decke aus Diamanten. In Georgia bedeutete Schnee meist nur Matsch, doch hier konnte ich mir kaum vorstellen, dass der Schnee jemals verschwindet.

Angenehme Wärme empfing uns in der Cafeteria. Sie war unübersichtlich groß. Schüler, Lehrer, sowie Personal rannten herum wie kleine Ameisen. Die fordere Partie bestand bis zum Dach aus einer Fenstern. Ich freute mich schon auf das Frühstück, wenn die Sonne, tausendfach gespiegelt von den Schneeflocken, die Halle erhellte.

"Wollen wir zu ihm?" Louisa tippte mich an und ich folgte ihrem Blick. An einer Tischgruppe bunter Stühle, saß Simon alleine am Tisch. Er stocherte in seinen Nudeln herum, ohne seine Umgebung wahrzunehmen. So wie immer. "Ich weiß nicht, ob er sich durch uns gestört fühlen würde", vermutete ich zumindest. Immerhin suchte er ja nicht nach Aufmerksamkeit.

"Du sagtest doch, er ist ein Mensch mit Charakter und Gefühlen. Mehr als nein sagen kann er also nicht." Louisa lächelte. Ja und wo sie recht hatte, hatte sie eben recht. Dave besiedelte schon längst das Buffet, als wir auf Simon zugingen.

"Hey Simon, können wir uns zu dir setzen?" Seine Smaragde strahlten erst mich und dann Louisa an. "Von mir aus." Dann aß er unbeirrt weiter
Hätte schlimmer laufen können.

"Schmeckt das Kantinenfutter?", wollte Isi wissen, während sie nebenbei ihre Jacke über den Stuhlrücken hängte. "So wie der Rest der Einrichtung aussieht, habe ich mir mehr versprochen." Das erklärte auch, warum er mit seiner Gabel mehr zur Seite schob als in seinen Mund steckte. "Gibt's da auch Salat am Buffet?" Mehr wollte Louisa ja auch nicht. Simon nickte ihr zu. Es wirkte noch recht befremdlich ihn bei uns zu haben. Er fügte sich auch nicht so schnell wie ein Dave ein, aber das fand ich nicht schlimm. In letzter Zeit bevorzugte ich die Ruhe.

Louisa ging nun selbst das Buffet inspizieren und ließ Simon und mich alleine zurück. Ich setzte mich an den runden Tisch, um meine Gedanken zu ordnen. Das war zumindest das, was ich denken wollte. Eigentlich genoss ich die Zweisamkeit mit Simon. Es sollte so werden wie beim letzten Mal; entspannt, lustig und befreit. Aber dafür musste mein schweigsames Gegenüber mitspielen.

"Wieso wollt ihr bei mir sitzen?" Ja, warum Vienna? Weil du deiner Freundin zufällig von ihm vorgeschärmt hast. Nein, das konnte ich ihm nicht sagen. "Die anderen Plätze sind schon besetzt." Zu schade, dass ich meine Aussage erst im Nachhinein prüfte. Um uns herum waren noch einige Tische frei. Ich vernahm ein Lachen und wusste es sofort zuzuordnen. Simon bekam einen Tritt gegen sein Schienbein, was ihn nur noch mehr anstachelte.

"Es gibt am Buffet übrigens auch Milchshakes und Karamellsoße extra dazu." Er hatte sich gemerkt, was ich mir am McDrive bestellt hatte! Mit der sanften Röte in meinem Gesicht, schlich sich auch die Nervosität an. Meine Finger verflochten sich in einander und plötzlich mied ich seine Blicke. "In Anbetracht der Kälte, mische ich die Karamellsoße lieber in einen Cappuccino." Genau diesen wollte ich mir sofort holen, um der Situation zu entfliehen. Keine Ahnung, wo diese Aufregung herkam.

Ich stand auf, als aufeinmal Simons Hand meine ergriff. "Vienna?" Da ruhte ein kleiner brauner Spränkel in dem funkelnden grün, dass mich so sehr fesselte. Meine Kinnlade fiel herunter, doch ansonsten erstarrte ich; nicht fähig mich zu bewegen. "Kannst du mir auch einen mitbringen?" Zwei ordentliche Reihen durchschnittlich weißer Zähne erschienen. "Mhm", stimmte ich völlig sprachbegabt zu.

Seine Hand verschwand und ich legte meine reflexartig über die nun freie Stelle. Ich wollte die Wärme einfangen, die so schnell verloren ging. Und ich wandte mich ruckartig ab, um mich nicht noch mehr zu blamieren.

Hatte Simon eben meine Fassungslosigkeit ausgenutzt, oder interpretierte ich gerade zu viel in seine Geste? Vielleicht steckte in dem Außenseiter ja ein Charmeur, oder ein kleiner frecher Junge? Ich kannte ihn kaum, aber wollte dies mit jeder Sekunde ändern.

Wie vereinbart begab ich mich mit zwei warmen Getränken bewaffnet zurück zu unserem Tisch. Diesmal entdeckte ich schon drei Köpfe von Weitem. Simon schaute kein einziges Mal von seinem Teller auf, nicht mal als ich mich wieder neben ihn setzte.
Louisa und Dave unterhielten sich scheinbar über das Essen. Meine Freundin probierte sogar den Inhalt von allen vier Tellern, die ich vor Dave bemerkte. Der Junge konnte wirklich fressen wie eine Kuh, auch wenn man es seinem Körper nicht unbedingt ansah.

"Wie kommt's, dass wir uns jetzt erst so richtig begegnen de Gailly?" Und das obwohl ich so oft bei deinem Bruder war, ergänzte ich Daves Frage in Gedanken. "Ich kann Prestons Freunde nicht ausstehen und du bist keine Ausnahme." Ich nippte an meinem leckeren Cappuccino und hoffte er würde neben dem wohlig warmen Gefühl in meinem Bauch, auch die negativen Schwingungen hinfort spülen, aber nein. Aus Simons Iriden schossen imaginäre Pfeile.

"Oh wow und ich dachte Preston wäre der Badboy." Dave lachte, um den Konflikt runter zu spielen, doch der Junge neben mir ließ sich nicht beirren. "Wie kommt's, dass du dich tagsüber von deiner Gruppe distanzierst, aber jeden Abend bei Preston verbringst?"

"Es hat ja keiner gesagt, dass ich nicht mehr mit Preston befreundet bin. Er ist nur anders, wenn man alleine mit ihm ist. Vienna kann das bestimmt bestätigen." Die Männer erwarteten eine Antwort von mir. Ganz im Gegensatz zu Louisa, die wusste, dass ich mit diesem Thema nichts zu tun haben wollte. Ja, er war anders. Ganz und komplett anders, aber ich würde es nie wieder laut zugeben. Mit einem ignoranten Arschlos konnte ich eben besser abschließen.

"Keine Ahnung." Dazu zuckte ich mit den Schultern. Ich hatte ihn nie gekannt, deshalb spielte die Vergangenheit auch keine Rolle mehr und in Zukunft sollte mir alles rund um Preston erspart bleiben.

My Boyfriend's Brother Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt