𝐒𝐩𝐢𝐧𝐧𝐢𝐧𝐠 𝐨𝐯𝐞𝐫 𝐲𝐨𝐮

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"Ich wusste, du wirst kommen." Simons Grinsen zog sich hauptsächlich über seine linke Gesichtshälfte. Er ähnelte einem frisch erblühten Gänseblümchen, während mir der Morgen wohl eher weniger stand. Wenn ich könnte würde ich bis zur nächsten Nacht durchschlafen, vor allem samstags.

Den meisten Menschen hier zwischen den Bahngleisen schien es ähnlich zu gehen. Sie redeten kaum, oder gähnten höchstens. "Schon am frühen morgen gleich so nervig", stellte ich fest und verdrehte die Augen, dabei zuckte es wahrscheinlich widersprüchlich um meine Mundwinkel.
Denn das was die Sonne nicht schaffte, tat Simon mit links. An jenem Morgen war ich aus dem verdammten Bett gesprungen. Ich wollte ihn sehen. Selbst, wenn wir vier Uhr morgens ausgemacht hätten, ich wäre da gewesen, pünktlich.

"Awww, da kommt der Honeybadger aus seiner dunklen Höhle gekrochen." Er piekte mir erst sachte in die Taille, doch nach dem ersten Quieken setzte er seine Folter gnadenlos fort. Ich brach in schallendes Gelächter aus, was ihn nur noch mehr anstachelte. Die Leute um uns herum schauten schon, aber was soll's, dachte ich, ich würde sowieso gleich ohnmächtig werden.

Unsere Bahn kam neben uns zum stehen und wir stiegen ein. Die nächst-besten Plätze gehörten uns. In dem fast leeren Zug hatten wir ausnahmsweise freie Wahl gehabt. Wir konnten uns gegenüber sitzen und das nutzten wir. Unsere Blicke trafen sich bis die Bahn sich in Bewegung setzte.

Ich wollte immer einen extrem männlichen Mann haben mit einem markanten Kiefer und dunklen Bartstoppeln. Seine Augen sollten braun, mysteriös und gefährlich funkeln.
Simon stellte das Gegenteil dar. Er besaß glatte und feine Züge, gekrönt von diesem leuchtenden Grün. Nicht ich, mein Herz hatte gefunden, was es für wunderschön empfand. Und es hämmerte so wild wie nach einem Marathon.

"Warst du schonmal im Six Flags?", wollte Simon wissen. Ich löste meinen Blick von ihm, der stattdessen zu meinen Fingern wanderte. Die blauen Bezüge der Sitze waren schon abgenutzt und dadurch rau. Irgendwie genauso wie die Beziehung meiner Eltern, noch bevor ich geboren wurde. "Nein...Meine Eltern verstehen sich schon sehr lange nicht mehr so gut."

"Hey! Heute sollst du einfach mal glücklich sein." Simon lehnte sich zu mir herüber. Seine Finger umfassten einerseits mein Kinn und die andere Hand mein nacktes Knie. Ich spürte seinen Atem in meinem Gesicht, bis hinunter zum Dekolleté. So schaffte ich es gar keinen Gedanken mehr zu fassen. Nur die Angst, dass es enden müsste, würgte den Moment ab. Nachdem Simon noch ein weiteres Stück vor kam und ich seine Lippen förmig auf meinen spürte, wich ich zurück.

Auch nur eine Person, die uns so erwischte, könnte unser Glück zerstören. Es musste geheim bleiben. Ich wollte mir kaum ausmalen, was meine, oder seine Eltern tun würden, oder Preston und Isi... Um dieses besondere Gefühl was uns verband, würde sich sofort ein grauer Schleier legen. Dabei wäre es so schön gewesen, seine Hand in meiner zu spüren, immer und überall.
Wehleidig drückte ich meine Wange gegen die Scheibe und beobachtete wie die Landschaft an mir vorbeizog.

*

Wir wurden praktisch direkt vor den Toren des Freizeitparks raus gelassen. Mir schlug sofort der Duft von erwärmtem Zucker in die Nase. Es versetzte mich in vergangene Jahre. Zum alljährlichen Jahrmarkt an der Küste Savannahs. Ich stockte und blieb letztendlich komplett stehen.

An mir vorbei zogen die Bilder von Preston und mir. Wie er mich die meiste Zeit getragen hatte, entweder auf seinem Rücken, oder mich in seinen Armen herum wirbelte. Wir hatten so viel gelacht. Und ich meine es wäre ein ehrliches Lachen gewesen.

Die riesige weiße Plüschrobbe, die er mir bei einem Schießstand ergattern konnte, lag immer noch auf meinem Bett. Ich konnte es nicht übers Herz bringen, sie mit all den anderen Sachen in den Karton zu werfen.

"Alles in Ordnung?" Simons Stimme drang verzögert in mein Bewusstsein, doch sobald ich es realisierte, nickte ich.

Die erste Achterbahn schoss ganz in der Nähe an uns vorbei und der Boden vibrierte. Das war wohl Simons Startschuss, um mich gleich zum ersten Höllentripp mitzureißen.
Er ließ mir gar keine Zeit mich gegen das schnelle Gefährt zu entscheiden, denn ich litt eigentlich unter Höhenangst, oder besser gesagt, der Angst davor zu fallen.

Wir quetschten uns tatsächlich in einen Wagon. Preston hätte jetzt bestimmt einen Arm um mich gelegt, aber sein jüngerer Bruder verwandelte sich gerade in ein kleines Kind. Mit seinen Händen umklammerte er die Stange, die uns sicherte. Seine Iriden waren starr nach vorne gerichtet. Er blinzelte nicht mal, aber seine Lippen offenbarten dafür zwei Reihen gerader Zähne. Ich musste dem Drang widerstehen ihm durch seine wilde Mähne zu wuscheln.

Und mit dem ersten Ruck schrie ich. Sein Körper an meinem vibrierte. Keine Ahnung, was ihm mehr Vergnügen bereitete, meine Furcht, oder diese Berg und Talbahn.

Nachdem das Kribbeln in meinen Füßen nachgelassen hatte, musste ich selbst grunzen bis mir die Tränen kamen.

Simon stieg als erster aus und hielt mir seine Hand hin. Er zog mich in seine Arme und für einen kurzen Moment schmiegte ich mich in sein schwarzes AC/DC-T-shirt. Ich inhalierte die fruchtige Frische. Jede Faser meines Körpers suhlte sich in seiner wohligen Wärme. Und doch zauberte die Elektrizität in meinen Adern eine zarte Gänsehaut.

Die Sorgen verflogen im Wind und ich wusste, eingeschlossen in seinen Armen, was Freiheit bedeutete. Eigentlich nicht mehr als pures Glück.

"Das Leben lehrt, das Lachen korrigiert. Er hat recht, oder?", flüsterte er in mein offenes Haar. "Bitte wer?!" Ich schob meinem Schlauberger eine lose Strähne hinters Ohr und schmunzelte. "Na Karalius, ein litauischer Dichter." Was auch sonst. "Gibt es ein Buch, oder einen Autor dieser Welt, den du nicht kennst?" Er legte seine Finger um sein Kinn und tat höchst professionell auf nachdenklich. "Wird schwierig." Dazu zuckte er mit den Schultern, was mir wiederum den nächsten Lacher entlockte.

Beim Riesenrad stand eine meilenweite Schlange und dennoch zwang mein Sturrkopf mich hier anzustehen. Es gehörte für mich zu einem Ausflug in den Freizeitpark dazu. Punkt!
Simons Gesichtsausdruck nach zu urteilen, berechnete er gerade die Wartezeit. Zumindest formte sein Mund stumm irgendwelche Zahlen.

"Weißt du was?! Ich versüß uns die Wartezeit. Halt uns den Platz in der Schlange frei!" Dann drängelte er sich durch die Menschenmenge, bis ich ihn im Chaos verlor.

Das Riesenrad bewegte sich wirklich langsam. Gut, wenn man erstmal drauf saß, schlecht, wenn man davor stand. Nach bestimmt drei Liedern von Ed Sheeren, die ich nebenbei mitsummte, spürte ich wieder seine Anwesenheit neben mir. "Ich bin bestimmt gute fünf Meter voran gekommen."

Mein Arm umfasste seinen. Es traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. So bekannt und viel zu fremd... Ich wollte mich lösen, doch zappelte wie ein Fisch an der Angel. Er behielt mich bei sich, an Ort und Stelle. Nur langsam wanderten meine Augen seinen Körper hinauf.

Mir war nach Schreien, doch das was meinen Lippen entkam, konnte ich selbst kaum hören.
"Preston... Was soll das?!"

My Boyfriend's Brother Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt