𝟛𝟚 - Beichte ablegen

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Die Zeiger der Uhr tickten unheilvoll und unterbrachen sekündlich die aufkommende Stille. Mom strich ihr braunes Haar nach hinten, wobei der weiße Ansatz in den letzten Minuten um einige Zentimeter gewachsen zu sein schien. Die blauen Augen, die ich von ihr geerbt hatte, rutschten zwischen Gabriel und mir hin und her. Die Anspannung war beinahe greifbar, seitdem wir uns in meine Wohnung begeben und im Wohnzimmer Platz genommen hatten. Als ich vor der Haustür bei den beiden angekommen war, schien sie noch zu überrascht von seinem Anblick gewesen zu sein, um andere Gefühlsregungen zuzulassen. Doch nun, wo sich der erste Schock gelegt hatte, erkannte ich die sich langsam bildende verdrießliche Falte zwischen ihren Augenbrauen. Es war offensichtlich, dass sie eine Erklärung verlangte und ich konnte es ihr nicht mal verübeln. Schließlich war es alles andere als alltäglich, Gabriel nach Jahren wiederzusehen und dann noch feststellen zu müssen, dass dieser direkt neben der Tochter wohnte, die es sowohl ihren Eltern, als auch den Thiels verheimlicht hatte. Mom war stinksauer.

"Also." begann sie und klatschte einmal in die Hände, als würde sie uns mit aller Kraft aus dieser verheißungsvollen Starre lösen wollen. Gewissermaßen klappte es auch, denn ich zuckte tatsächlich schreckhaft zusammen. In einer anderen Situation hätte sich Gab wohl darüber lustig gemacht, doch er verkniff sich einen Kommentar und presste die Lippen aneinander. Für ihn war diese Situation auch unangenehm. Nicht nur, dass er damals seine eigenen Eltern abgeschrieben hatte - dasselbe hatte er auch mit den Simmons abgezogen. Möglicherweise war dies nicht halb so schlimm im Vergleich zur eigenen Familie, doch Gabriel war für meine Eltern genauso ein Sohn gewesen, wie ich die Tochter der Thiels. Mom und Dad waren über den plötzlichen Kontaktabbruch ebenso bestürzt gewesen wie ich. Okay, vielleicht nicht ganz.

"Wann wolltet ihr uns denn erzählen, dass ihr wieder Kontakt zueinander habt?" begann sie und ihre Stimme zeugte von unterdrückter Wut und Enttäuschung. Ich hasste es, wenn wir Streit haben. Das hatte ich schon damals und es würde sich wohl nie ändern. Ich war nie ein aufmüpfiger Teenager gewesen, hatte demnach nie Stress verursacht und versuchte immer, es allen Recht zu machen. Umso mehr nahm es mich mit, wenn wir dann doch aneinander gerieten. Manchmal passierte es einfach, sei es aus belanglosen Dingen und falsch interpretierten Momenten. Doch diese Situation war weder belanglos, noch falsch interpretiert. Mom hatte ein gutes Recht, sauer oder zumindest enttäuscht zu sein. Schon seit dem Abendessen bei den Thiels hatte ich das schlechte Gewissen, ihnen nichts von Gabriel erzählt zu haben. Nun wurde es mir zum Verhängnis.

"Verstehe. Gar nicht also." fügte sie leicht verbittert hinzu, als keiner sich zu Wort meldete. Während Gab noch immer keine Anstalten machte, etwas zu sagen, seufzte ich und zog die Stirn kraus. "Mom, es tut mir doch leid. Nur ich...wir mussten uns doch selbst erstmal wieder daran gewöhnen. Das war für uns auch nicht einfach."

"Das glaub ich gern. Aber wisst ihr, was auch nicht einfach ist? Mit Dani und Chris zu sprechen, ihre Trauer über ihren verschollenen Sohn anzuhören und dann zu erfahren, dass er ja doch nicht verschwunden ist." erklärte sie aufgebracht und starrte uns nieder. "Und dass du noch mit uns am Tisch sitzt und verschweigst, dass ihr Kontakt habt - obwohl du selbst mit den beiden geredet und gesehen hast, wie sehr sie leiden. Ich bin zutiefst enttäuscht, Evelyn. Und von dir übrigens auch, Gabriel. Auch wenn wir uns eine Weile nicht gesehen haben, kann ich einfach nicht glauben und verstehen, warum du dich so abgewandt hast. Deine Eltern vermissen dich unglaublich."

Ich erlaubte mir einen kurzen Seitenblick zu Gab. Dieser hatte seine Unterarme auf den Beinen abgestützt, die Hände zu einer großen Faust geschlungen und die Augen stur auf den Wohnzimmertisch gerichtet. Entweder hielt er den anklagenden Blick meiner Mutter nicht stand, oder er versuchte sich gerade auf pubertäre und rebellische Art und Weise zu entziehen. Beide Varianten schmeckten Mom ganz und gar nicht, das wusste ich nur zu gut. Ich wusste selbst nicht, was gerade in ihm vorging. Eine ganze Weile sagte keiner etwas, die Stille drückte uns beinahe nieder und ich hatte das starke Bedürfnis, Gabriel an den Schultern zu packen und durchzuschütteln. Warum sagte er nichts?

Damals wie HeuteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt