P.o.V. Gabriel
"Ich hab dich, du bist dran!" rief die kindliche Stimme von Eve, als ihre kleine Hand auch schon meine Schulter berührte. Kichernd rannte sie davon, als ich mich hektisch umdrehte und sie zu fassen versuchte. "Na warte!" Mein breites Grinsen wuchs mit jeder Minute, während mein Herz heftig gegen den Brustkorb pumpte. Eves blonde Haare flatterten im Wind, als sie versuchte mir zu entkommen. Im Zickzack hechtete ich ihr hinterher, um die Bäume herum, durch die Laubhaufen der gefallenen Blätter und über den kleinen Abhang am Ende des Gartens. Durch ihre dünnen Beine war sie flink wie ein Hase, doch ich war so schnell wie ein Gepard. Aufgeregt schnappte ich nach Luft, die rechte Hand bereits nach ihr ausgestreckt. Es fehlten nur noch wenige Zentimeter, dann hatte ich sie erreicht. Als sie plötzlich einen Haken schlug, spürte ich den weichen Stoff ihrer roten Fleece-Jacke an den Fingerspitzen. Eve kreischte auf, als ich sie endlich erwischte und mit Schwung zu Boden warf. Dabei landeten wir genau in eines der sauber zusammengefegten Laubhaufen - später würde es dafür sicherlich Ärger von meinen Eltern geben, doch in diesem Moment war es uns herzlich egal. Alles was zählte, war das Spiel. Ihr glockenhelles Lachen erreichte meine Ohren und schenkte mir unzählige Herzsprünge vor Freude. "Erwischt." sagte ich triumphierend, während ich grinsend auf sie herunter starrte. Eve lag auf dem Rücken, umgeben von roten, orangenen und braunen Blättern. Ihre blauen Augen leuchteten wie Kristalle und hoben sich deutlich von ihren erröteten Wangen ab. „Vielleicht wollte ich mich ja fangen lassen." sagte sie, was mich belustigt schnauben ließ. „Klar. Ganz bestimmt." Schon im zarten Alter von 10 Jahren wusste ich, wie Ironie funktionierte.
Kichernd streckte sie mir die Zunge heraus, bevor sie mich überrumpelte und einen halben Satz nach vorn machte. Ich spürte nur noch, wie sich ihre zarten Hände auf meiner Brust platzierten und einen leichten Druck ausübten - dieses Mal lag ich unten auf dem Boden. Für einen kleinen Moment verdeckten ihre Haare mein Sichtfeld, bevor ich in das Gesicht der 16-jährigen Eve sah. Von Jahr zu Jahr wurde sie immer schöner, auch wenn ich manche farblichen Experimente nicht guthieß - ich mochte ihren natürlichen Look. Momentan hatte sie türkisfarbene Haarsträhnen, die ihre blauen Augen unterstrichen. „Was ist los, Gab? Du bist so ruhig." Ihre Stimme klang belustigt, als sie sich wieder zurücklehnte und neben mir Platz nahm. Der Himmel war durchzogen von ein paar Wolken, doch der sommerlichen Hitze tat es keinen Abbruch. Gut, dass der Baum uns etwas Schatten spendete - Eve bekam schneller Sonnenbrand, als gut für sie war. Ich drehte meinen Kopf in ihre Richtung, um sie ansehen zu können. Ihr fragender Blick traf meinen. Sie wartete noch auf eine Antwort. „Nichts." murmelte ich und seufzte. „Ich will nicht, dass die Ferien enden."
„Ich auch nicht. Aber weißt du was?" Ihr Lächeln steckte mich etwas an. „Was?"
„Wenigstens müssen wir da gemeinsam durch." lachte sie und versetzte mir einen freundschaftlichen Knuff. Allein diese minimale Berührung ließ meine Haut unruhig kribbeln. Ob sie wusste, was für eine Wirkung sie auf mich hatte? „Toll. Das baut mich ja gleich mehr auf." feixte ich und schenkte ihr mein spitzbübisches Grinsen. Ich wusste, dass sie darauf ansprang. Das tat sie immer. „Ey! Dann such dir doch eine andere für den Job. Die Auswahl ist ja nicht gerade gering." Den letzten Teil murmelte sie eher zu sich selbst und das Blitzen in ihren Augen verriet mir, dass es sie ehrlich belastete. Für einen kleinen Moment hoffte ich, sie wäre eifersüchtig. Das würde bedeuten, dass sie vielleicht auch so empfand wie ich. „Komm schon, so war das nicht gemeint. Ich würde dich niemals ersetzen."
Eve hob eine Augenbraue. „Niemals?"
„Niemals. Versprochen."
Ihr kleiner Finger schloss sich von allein um meinen und besiegelte unseren Schwur.
„Beste Freunde auf Lebenszeit."Ich wachte auf.
Nur mühsam schaffte ich es, meine trägen Lider anzuheben und gegen das helle Licht anzukämpfen. Wo war ich? Der Garten meiner Eltern und das warme Gefühl auf der Haut fühlten sich noch so real an, dass ich für einige Sekunden hätte schwören können, dort eingeschlafen zu sein. Doch die weiße Zimmerdecke, die nun in mein Blickfeld geriet, hatte nichts mehr mit dem freien blauen Himmel zu tun. Die Couch, auf der ich momentan lag und anscheinend auch übernachtet hatte, fühlte sich auch nicht so an wie das frisch gemähte Gras aus meinen Träumen. Meine müden Knochen erwiesen sich auch nicht mehr als so agil, als ich mich kurz streckte und ein befreiendes Knacken ertönte. Mein 10-jähriges Ich hätte gelacht und mich als alten Mann betitelt. Laut ausatmend wischte ich mir behelfsmäßig die letzten Reste an Schlaf aus dem Gesicht und drehte mich um.
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Damals wie Heute
عاطفية𝐄𝐯𝐞𝐥𝐲𝐧 & 𝐆𝐚𝐛𝐫𝐢𝐞𝐥. Einst unzertrennlich, bis das Leben die besten Freunde auseinander riss. Nach einem heftigen Streit entschließt sich Evelyn, für ihr Studium ihre Heimatstadt zu verlassen und die Geschehnisse hinter sich zu lassen. Do...