𝟙𝟞 - Abendessen bei den Thiels II

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Es war also alles meine Schuld. Nur durch mein Verschwinden hatte Gabriel sich von seiner Familie abgewandt und sogar riskiert, Tom und alle anderen zu verlieren. Doch wieso? Wie konnte er zulassen, dass ihn das so sehr mitnahm? Hatte er genauso gelitten wie ich? War er auch in den ersten Wochen und Monaten wie ein anderer Mensch umhergelaufen und hat versucht, mit der neuen Situation umzugehen? Ich bereute es nicht, nach London gegangen zu sein. Inzwischen nicht mehr, jedenfalls. Doch zu Anfang hatte ich es jeden einzelnen Tag. Jeden Morgen wachte ich mit verquollenen Augen auf und wünschte mir, Deutschland nie verlassen zu haben. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich erfahren, was Herzschmerz wirklich bedeutete. Gabriel schien es wohl ähnlich ergangen zu sein, wenn nicht sogar schlimmer. War dies auch der Grund für seine Berufswahl? Hatte er auch aus diesem Grund seinen Traum aufgegeben und sich stattdessen für eine leichtere Variante entschieden? Nicht, dass das Berufsfeld eines Barkeepers unbedingt leicht war, doch der Gedanke erschütterte mich dennoch etwas. Schließlich hatte er damals noch voller Tatendrang und Energie gesprüht.

"Tut mir Leid, ich wollte die Stimmung nicht kaputt machen." unterbrach Dani meine wirren Gedanken und lächelte schwach. "Auch wenn es eine Weile schon so ist, geht mir das Thema dennoch sehr nah."

"Das ist doch verständlich! Es geht schließlich um euer Kind." beteuerte Mom und zog eine entschuldigende Grimasse. Offenbar hatte sie gemerkt, dass ihre vorige Frage ziemlich unbedacht gestellt wurde. "Es tut mir Leid, einfach nachgefragt zu haben. Ich hatte eigentlich gehofft, dass die beiden sich wiedersehen können." Sie nickte kurz in meine Richtung und ließ mein Herz automatisch schwer werden. Wenn du wüsstest, Mom. Alle Anwesenden am Tisch interpretierten meinen Gesichtsausdruck wohl falsch, denn sofort wurde ich geradezu mit mitleidigen und liebevollen Blicken überschüttet. "Es wird schon alles wieder gut werden, Eve. Er wird sich irgendwann einkriegen und vielleicht könnt ihr ja dann wieder Freunde werden, hm?" sagte Chris in einem aufbauenden Ton, den ich nur belächeln konnte. Wieder Freunde werden. War das überhaupt möglich? "Ja, vielleicht." antwortete ich daher nur und versuchte, mir meine Gedanken nicht anmerken zu lassen. In diesem Moment fühlte ich mich mehr als nur schlecht, dass ich ihnen den bereits bestehenden Kontakt zu Gabriel verschwieg. Wussten sie überhaupt, wo er wohnte? Dass er in seiner Stammkneipe arbeitete? Dass er öfter fremde Mädels nach Hause brachte, als gesund für ihn wäre? Die Worte lagen mir auf der Zunge und brannten sich geradezu ein. Die mitgenommenen Blicke von Chris und Dani schenkten mir zusätzliche Schuldgefühle - nur zu gern würde ich etwas von ihrem Leid nehmen, ihnen sagen, dass es Gabriel gewissermaßen gut ging. Dass ich wieder mit ihm sprach. Und alles versuchen werde, ihn wieder nach Hause zu bringen. Vielleicht nicht wortwörtlich, schließlich besaß er eine eigene Wohnung. Es würde jedoch schon ausreichen, wenn er wenigstens wieder mit ihnen sprach.

"Dann hol ich mal den Hauptgang, nicht?" fragte Daniela, bevor sie auch schon aufstand und die kleinen Schüsselchen einsammelte. Dieses Mal half ich ihr bei der Arbeit, da mich ohnehin schon ein schlechtes Gewissen plagte. In der Küche entdeckte ich mehrere Töpfe und Pfannen, welche die restlichen Gänge beherbergten. Es roch herrlich. Gemeinsam füllten wir die vorgewärmten Teller mit Lachs, Reis, Gemüse und einer himmlisch cremigen Soße. "Das mochtest du früher immer so gern." erinnerte sich Dani, als ich mir einen extra Löffel mit der Soße auftat. "Stimmt. Und Gab hat sich immer beschwert, dass du andauernd nur meine Lieblingsessen kochst." bemerkte ich kichernd und ließ mich kurz von der schönen Erinnerung mitziehen. Dani lächelte ebenfalls. "Und da hatte er auch Recht damit gehabt." gab sie zu. Einen kleinen Moment hielten wir inne und schwelgten in den Erinnerungen, bis Dani seufzte und mir mütterlich über den Kopf strich. "Er mochte dich wirklich, Evelyn. Wirklich sehr." Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals, der sich kaum herunterschlucken ließ. "Ich weiß." sagte ich schwach. "Ich ihn auch." Und ich mag ihn immer noch.

Damals wie HeuteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt