𝟚𝟙 - Regnende Orangen

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Ich stampfte die letzten Meter bis zu meiner Haustür nach oben, dabei bemüht, nicht allzu sehr zu schnaufen. Auch wenn ich einen Supermarkt direkt in der Nähe hatte und es sich als ziemlichen Vorteil entpuppte, direkt nach der Arbeit keinen Umweg machen zu müssen, so hatte ich noch immer ganze vier Etagen an Stufen vor mir, die mir unerträglich hoch vorkamen. Gerade, als ich die vorletzte Stufe erreichte und mein Ziel schon fest vor Augen hatte, passierte es. Eine der beiden Tüten riss.

Wie in einem schlechten Film platzte die dünne Papiertüte unten auf und enthüllte meinen halben Einkauf, welcher geradezu in Lichtgeschwindigkeit wieder den Weg nach unten fand. "Fuck." fluchte ich laut, stellte die übrige Papiertüte sicher am oberen Absatz ab und stürmte meinen Lebensmitteln hinterher. Gut, dass die Weinflasche in der anderen Tüte war. So kullerten lediglich ein paar lose Orangen, Säfte und andere Dinge herunter. Glücklicherweise blieb das meiste in nächster Nähe liegen; die eingeschweißten Packungen und Milchkartons rollten nun mal nicht wirklich und ließen sich demnach schnell wieder einfangen. Als ich bereits dreiviertel des Inhalts wieder gesammelt hatte, hörte ich Schritte im Treppenhaus und kurz darauf ein überraschtes "Oh?". Peinlich berührt schielte ich kurz zwischen dem Treppengeländer nach unten, konnte aber niemanden entdecken. War etwas doch weiter nach unten gerollt als gedacht? Hoffentlich war es ein Nachbar, der auf einem unteren Stockwerk wohnte und diesen Fauxpas somit nicht mitbekam. Höchstens würde sich die Person dann vielleicht über eine gratis Orange freuen.

Während ich gerade das mir ersichtlich letzte Stück schnappte (eine Prinzenrolle mit angeblichem extra Keks obendrauf) kam mir eine Gestalt entgegen. Als ich mich aufrichtete, fielen mir zuerst die dunklen Boots auf, in denen eine leicht zerrissene Jeans steckte. Darüber befand sich ein dicker Pullover in einem dunklen Grünton plus dazugehöriger karierter Mantel in Grün-Schwarz. Sashas Grinsen vertiefte sich, als sie mich ebenfalls entdeckte und erkannte. "Hey, du. Ich glaube, die gehört dir?" begrüßte sie mich und machte die letzten Schritte zu mir hoch. In ihrer Hand entdeckte ich die fehlende Orange, die ich schon weiter unten vermutet hatte. Unsicher lächelnd nahm ich diese entgehen. "Hey. Ja, danke dir. Mir ist leider die Einkaufstüte gerissen." erklärte ich das Dilemma und stampfte zu dem Haufen Lebensmitteln zurück, die neben der übrig gebliebenen Tüte lagen. Diese müsste ich wohl einzeln hereintragen, es sei denn ich fand irgendwo schnell einen Beutel in der Wohnung. Warum musste mir auch sowas immer passieren? "Ich seh' schon." antwortete Sasha belustigt, bevor sie tatkräftig in die Hände klatschte und mich angrinste. "Komm, ich helfe dir schnell es reinzutragen."

"Schon gut, brauchst du echt nicht." wank ich ab, doch sie schüttelte nur den Kopf. "Keine Widerrede. So geht es doch viel schneller, oder nicht." Natürlich musste ich ihr Recht geben, zu zweit ging es wirklich zügiger vonstatten. Dennoch hatte ich noch immer einen gewissen Widerwillen, mich ihr persönlich zu nähern. Nicht auf körperlicher Ebene, sondern eher emotional gesehen. Ich konnte es nicht verhindern, aber ein kleiner Teil in mir konnte sie nicht leiden. So nett und hilfsbereit sie auch schien, aber dieser eifersüchtige, engstirnige Bereich in meinem Kopf machte es mir schwer, sie näher kennenlernen zu wollen. Zumal ich immer wieder dieses eingerahmte Bild in Gabriels Zimmer vor Augen hatte, welches mir nur verdeutlichte, dass sie meinen Platz eingenommen hatte. Und vielleicht sogar viel mehr.

"Okay. Danke." gab ich mich geschlagen, bevor ich die Tüte in die eine Hand nahm und meinen Hausschlüssel in die andere, um die Tür aufzumachen. Zügig lief ich in die Küche, stellte alles ab und lief Sasha dann entgegen, um ihr die Lebensmittel abzunehmen. Als ich zurückkam, stand sie noch perplex im Flur - offenbar hatte sie angenommen, dass ich zu Gabriel wollte. Wie sollte sie auch wissen, dass du direkt neben ihm wohnst?  Sie hatte sich jedoch schnell gefangen und es dauerte tatsächlich keine drei Minuten, da hatten wir alles aus dem Flur in die Wohnung geräumt. "Vielleicht solltest du ein paar Sachen abzuspülen. Zumindest das Obst." meinte sie, als ich gerade den eigentlichen Schaden in Augenschein nahm. Mal abgesehen von ein paar eingedrückten Ecken bei den Milchkartons und einer leicht malträtierten Orange schien alles in Ordnung zu sein. Dennoch war es eine gute Idee, den restlichen Dreck des Fußbodens etwas abzuwischen. "Ja, du hast recht." gab ich also zu und machte mich daran, den Plan umzusetzen. In der Zwischenzeit bemerkte ich, wie Sasha sich unauffällig umsah. Die kurze Stille wurde nur vom Wasserhahn unterbrochen, was mich zunehmend nervös machte. Warum war sie immer noch hier? Ich würde wetten, dass sie auf dem Weg zu Gab gewesen war. Nachdem ich den Rest abgewischt und teilweise abgewaschen hatte, trocknete ich schnell meine Hände und wandte mich Sasha wieder zu. Diese lief gerade im Flur entlang zum Wohnzimmer. "Wie lang wohnst du hier schon?" fragte sie plötzlich, als sie die neuen Möbel und den kleinen Balkon betrachtete. Zog sie innerlich vielleicht Vergleiche zur Wohnung nebenan? "Seit kurzem." sagte ich nur, da ich mir nicht sicher war, worauf sie hinaus wollte. "Du, ähm. Du wolltest sicher zu Gab." fügte ich schnell hinzu, wobei es eher nach einer Feststellung klang als einer Frage. Dies ließ sie jedoch lächelnd umdrehen. "Jap. Ich wollte ihn für die nächste Schicht abholen."

Damals wie HeuteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt