Die Woche nach der Einweihungsfeier war die Hölle für mich. Ich konnte in den Nächten kaum ein Auge zumachen, ohne Gabs Stimme zu hören. In manchen Momenten sogar wortwörtlich - offenbar hatte er ein reges Sexualleben, an welchem er die Nachbarschaft teilhaben lassen wollte. Die Wände waren so unerträglich dünn, dass ich bei jedem nächtlichen Besuch sofort Bescheid wusste. Zumal ich mir immer mehr die Frage stellte, ob er denn keinen Job hatte - wie schaffte er es, unterhalb der Woche bis in die Motzen wach zu bleiben? Zumal die Frauen nicht gerade die leisesten Exemplare waren - entweder hatten diese etwas zu kompensieren, oder er war tatsächlich so gut, dass...
Okay, Eve. Schluss damit! Du kannst doch nicht darüber nachdenken, wie Gabriel...
Stöhnend wälzte ich mich in meinem Bett und hielt das Kissen frustriert über meinen Kopf. Es war Donnerstagnacht, inzwischen 2:00 Uhr morgens und Gabriel schien nichts besseres zu tun zu haben, als eine Frau zu beglücken. Die Wut und der Frust überwog langsam den Schock, ihn wiedergesehen zu haben. Wobei ich ihn nicht direkt gesehen hatte; seine Stimme hatte ausgereicht, um meinen Körper komplett außer Gefecht zu setzen und die Flucht zu ergreifen. Wie er wohl aussehen mochte? Sofort stieg mir die Erinnerung an den alten Gab in den Kopf, mit seinen strahlenden grünen Augen und den dunklen braunen Haaren, die ihm bis zur Schulter reichten. Sein belustigtes Grinsen, wenn er mich mit irgendwelchen Albernheiten aufzog. Die süßen Grübchen, die sein freches Abbild nur unterstützten. Die Wärme, die er mir bei jeder Begegnung schenkte.
„Verdammter Mist." murmelte ich, als ein weiterer Ausruf der Ekstase durch die dünne Wand drang. Wütend setzte ich mich etwas auf, ballte meine Hand zur Faust und schlug mehrmals gegen die Fassade. Kurze Zeit war es still, bis ich ein Kichern vernahm und kurz darauf wieder ein Stöhnen. Brummend runzelte ich die Stirn. Wie konnte man nur so...so sein?
Ein paar Stunden später musste ich wieder aufstehen und versuchte, den wenigen Schlaf aus meinem Gesicht zu waschen. Die dunklen Augenringe und der blasse Teint zeugten allerdings von einer kurzen Nacht und wollten sich nicht wegwischen lassen. Selbst der überteuerte Concealer, welcher relativ selten zum Einsatz kam, konnte nicht abdecken, wie ich mich momentan fühlte: einfach hundemüde. Gähnend zog ich mich an, kippte den gekochten Kaffee in meinen To-Go-Becher und machte mich schon auf dem Weg zur Arbeit. Etwas verspätet kam ich am U-Bahnhof an und konnte nur hilflos dabei zusehen, wie meine Bahn davonfuhr. „Scheiße." murmelte ich, nahm einen Schluck von meinem Kaffee und setzte mich auf einen freien Platz am Gleis. Zum Teufel mit Gabriel.
Missmutig erreichte ich verspätet das Büro. Bevor ich mich auch nur hinsetzen konnte, empfing mich Lars mit einem schmalen Lächeln und legte mir diverse Papiere auf den Tisch. „Die musst du überarbeiten. Kendra war nicht begeistert von den Entwürfen." Seine Stimme klang weder anklagend, noch entschuldigend - er sprach die Fakten schnell aus, als wäre er mal wieder auf dem Sprung. "Oh, okay. Bis wann..."
"Am besten heute noch. Zeig ihr die überarbeiteten Entwürfe einfach, ihr Büro ist direkt nebenan."
Mein Blick wich von den unzähligen Anmerkungen, welche ausgerechnet mit einem roten Stift markiert wurden, wieder zu Lars. Bisher musste ich Kendra, der Marketing-Chefin, seit dem ersten Tag nicht mehr allein unter die Augen treten. Lars war immer mit dabei gewesen und hatte somit den meisten Ärger ihrer üblichen Schimpf-Tiraden abgefangen. Ein ungutes Gefühl machte sich in meinem Inneren breit, mich ihr alleine stellen zu müssen. Mein Vorgesetzter nutze die kurze Chance meiner gedanklichen Abwesenheit und lief unterdessen wieder zu seinem Tisch gegenüber zurück. "Aber..." begann ich schwach, wurde jedoch wieder prompt unterbrochen. "Der Erscheinungstermin der ersten Anzeigen ist nächste Woche. Du weißt ja, dass Kendra dann langsam nervös wird. Aber ich bin sicher, du wirst das schon schaffen." Während er dies sagte, konnte ich nur hilflos dabei zusehen, wie er weiter seine Tasche packte. "Und wo gehst du hin?" hakte ich misstrauisch nach. Eigentlich hatte er seine bisherigen Termine immer im Kalender eingetragen - wollte er etwa vor der anstehenden Konversation flüchten? "Ich helfe heute in der Redaktion aus. Der Typ, der die Seiten zusammensetzt, ist ausgefallen. Falls was sein sollte, melde dich einfach. Meine Nummer hast du ja."
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Damals wie Heute
عاطفية𝐄𝐯𝐞𝐥𝐲𝐧 & 𝐆𝐚𝐛𝐫𝐢𝐞𝐥. Einst unzertrennlich, bis das Leben die besten Freunde auseinander riss. Nach einem heftigen Streit entschließt sich Evelyn, für ihr Studium ihre Heimatstadt zu verlassen und die Geschehnisse hinter sich zu lassen. Do...