Juli 2020, Kneipe
Ich arbeite in der Kneipe, seitdem ich 16 Jahre alt bin und meine Eltern und ich uns verkracht hatten. Es war kein herkömmlicher Streit um vergessene Hausaufgaben oder das zu späte Heimkommen gewesen, denn das hätte nicht den beinahe totalen Kontaktabbruch herbeigeführt. Nein, der Grund für das Geschrei und die finale Entscheidung, frühzeitig auszuziehen und nie wieder zu kommen, war ein gänzlich anderer:
Es ging um mein Outing.
Ich war leider eines der vielen Geschöpfe, die keine verständnisvollen Eltern oder Geschwister abbekommen hatten und demnach mit permanentem Zwiespalt zwischen Liebe und Hass leben mussten. Einerseits liebte und verstand ich meine Eltern, schließlich war das Aufwachsen bei ihnen normal und glücklich verlaufen. Gemeinsam mit meiner Schwester wohnten wir in einem tollen Haus mit Vorgarten, besaßen sogar einen Pool und führten ein glückliches Leben. Es gab selten Streit, höchstens zankte ich mich mit meinem jüngeren Ebenbild Stefanie. Stef war, wie könnte es anders sein, mein Sonnenschein und gleichzeitig die größte Nervensäge überhaupt. Aber ich liebte sie, wie es nur eine große Schwester tun und lassen konnte.
Man sollte meinen, dass wenigstens - oder gerade - sie sich an meine Seite gestellt haben musste, um mich bei der hitzigen Auseinandersetzung mit meinen Eltern zu unterstützen. Denn dafür waren Geschwister schließlich da, oder? Um zusammenzuarbeiten und sich gemeinsam gegen die elterliche Entscheidungsgewalt zu stellen? Tja, bei mir stellte sich das leider als ein trügerischer Fehler heraus. Im Nachhinein überlegte ich oft, ob es an ihrem Alter gelegen hatte. Sie war lediglich zwei Jahre jünger, doch mit den damaligen 14 Jahren hatte sie die Situation vielleicht nicht gänzlich einschätzen können. Zudem war sie jeher der Liebling meiner Eltern gewesen, da sie rundherum perfekt war - zumindest in deren Augen. Während ich im zunehmenden Alter immer mehr Probleme mit nach Hause brachte, öfter die Schule schwänzte und bereits dort fasziniert von der Welt der "asozialen Szene" war, wie es meine Mutter gerne betitelte, war das Lieblingskind schnell gefunden. Wobei man erwähnen sollte, dass die sogenannte asoziale Szene nicht mehr war als meine damalige Clique, die Rock und Metal hörte, schwarze Kleidung trug und heimlich zuhause Piercings stechen ließ. Für mein Verständnis war daran nichts unnatürlich oder unnormal, ich fühlte mich endlich willkommen und akzeptiert. Diese paar Leute hatten nichts dagegen wenn man etwas anders war, nicht zum Mainstream gehören wollte und seinen eigenen Weg einschlug. Diese Entscheidung - oder einfach mein Wesen - wurde dort kommentarlos aufgenommen. Mit der Zeit entwickelte es sich zu meinem Rückzugsort, wenn ich daheim mal wieder Stress hatte und eine Auszeit brauchte. Je öfter ich rebellierte, desto mehr wendete ich mich allerdings auch von meiner Familie ab - bis ich es nicht mehr aushielt und endlich die Karten auf den Tisch schmiss.
Dass ich lesbisch war, erkannte ich schon relativ früh. Während die anderen Mädels, meine Schwester mitgezählt, begannen über Jungs zu sprechen und zu schwärmen, fühlte ich einfach nicht dasselbe. Ich hatte einfach keinerlei Interesse daran, diese schwitzenden und idiotischen Kerle näher kennenzulernen, zumindest nicht im romantischen Sinn - als Kumpels kam ich eher mit ihnen klar als mit so manchem Frauen. Spätestens, als ich jedoch dieses verräterische Herzklopfen und die hibbelige Nervosität bei einer meiner ehemaligen Freundinnen spürte, realisierte ich es. Ich stand auf Frauen.
Die finale Erkenntnis brachte mir keinen Schock ein, wie ich es eigentlich erwartet hätte. Vielleicht lag es daran, dass ich es irgendwie schon immer gewusst hatte - vor allem im direkten Vergleich mit meiner Schwester. Umso mehr schmerzte es, dass sie sich ebenfalls abgewandt hatte und der Kontakt auf ein Minimum reduziert wurde. Meine Eltern hatten ganze Arbeit geleistet und ihr den Glauben aufgezwungen, dass nur Männlein und Weiblein gemeinsam in den Sonnenuntergang reiten konnten. Absurd, nicht? Wenn Gott alle Geschöpfe liebte, warum dann angeblich nicht mich? Ich verstand die Welt und meine Familie nicht mehr. In den ersten Tagen nach meinem übereilten Ausriss übernachtete ich bei unterschiedlichen Freunden, kämpfte mich durch den mittleren Schulabschluss und jobbte bei diversen Cafés und Restaurants, um über die Runden zu kommen. Ein einziges Mal hatte Stefanie Kontakt zu mir aufgenommen, um mich zurückzuholen. Wohlmöglich schlich sich da doch so etwas wie ein Funken Geschwisterliebe durch, doch leider hielt diese nicht lange an. Schließlich konnte und wollte ich mich nicht ändern - wie auch? Das war nun mal ich.
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Damals wie Heute
Romance𝐄𝐯𝐞𝐥𝐲𝐧 & 𝐆𝐚𝐛𝐫𝐢𝐞𝐥. Einst unzertrennlich, bis das Leben die besten Freunde auseinander riss. Nach einem heftigen Streit entschließt sich Evelyn, für ihr Studium ihre Heimatstadt zu verlassen und die Geschehnisse hinter sich zu lassen. Do...