In Liebe ertrinken

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Während wir darauf warten, dass der Sommer zurück kommt, wachsen unsere Haare. Boris und ich stehen nebeneinander, oberkörperfrei, unsere Hände sind auf den Waschbecken abgestützt und wir mustern uns im Spiegel. Unsere Haare sind lang geworden. Meine hängen farblos bis zu meinem Kinn und Boris schwarze wilde Locken tanzen sogar schon auf seinen Schultern. "Du siehst aus wie ein Mädchen.", sage ich, weil ich ihn nerven will. Und weil ich will, dass er mir genervt in die Augen schaut. Weil ich will, dass er mich bei meinem Spitznamen nennt. "Fick dich, Potter.", sagt er und schaut mich an, aber nicht richtig genervt, sondern mit so einem Zwischending, so ein Blick, den ich von niemand anderem kenne, so ein bisschen belustigt und ein bisschen verärgert und dann war da noch etwas anderes, ein Glitzern in seinen Augen, das ich nicht recht zuordnen konnte, aber eine wohle Gänsehaut an meinem Rücken auslöste - und auch ein wenig Angst, Angst, weil ich wusste, dieses Glitzern gallt nur mir und ich nicht ganz wusste, was ich damit anfangen sollte. Ich brach den Blickkontakt, wie so oft in den letzten Wochen, wie immer, wenn ich merke, dass irgendwas beginnt Bedeutung zu haben, wie immer, wenn ich merke, dass mir irgendetwas unter die Haut gehen könnte, wie immer, wenn ich merke, dass ich plötzlich ganz tief unter Wasser bin und auf dem Grund etwas sehe, dass nur für die besonders ausdauernden Taucher vorgesehen ist, immer dann stoße ich mich so schnell wie möglich vom Grund ab und rase durchs Wasser bis ich die Wasseroberfläche wieder durchbreche und alle Überreste der Tiefe, alles bedeutungsvolle, von den Sonnenstrahlen verdampfen lasse.
Boris und ich schauten wieder in den Spiegel und ich fragte mich, was der Spiegel uns hier zeigte. Wer waren wir? War das hier die endgültige Version von uns? War das hier die echteste Version von uns? Welche Version war die Wahre, die, die Welt sah oder die, die sich in meinem Gehirn versteckte, die, die sich nachts im Mondschein wandte, die Version, die niemand kannte, nichtmal Boris.
Ich schaute in den Spiegel und ich sah einen verwahrlosten Jungen und seinen besten Freund. Ich schaute in den Spiegel und ich sah zwei abgemagerte Jungen und ungekämte Haare und Dreck am Kinn und Sand am Haaransatz. Ich dachte an den Jungen, den ich früher im Spiegel gesehen habe, den Jungen im Hemd und mit Schulkrawatte, der Junge mit Seitenscheitel und mit wachen Augen, die hinter sauberen Brillengläsern denken, sie würden die wahre Welt erkennen. Diese zwei Jungen schienen in meinem Kopf unvereinbar zu sein, aus unterschiedlichen Welten zu stammen, aus unterschiedlichen Klassen, Jungen, die sich niemals getroffen hätten, wenn das Schicksal nicht ironischerweise dafür gesorgt hätte, das sie ein und dieselbe Person waren. Aber waren sie wirklich die selbe Person? War dieser verwahrloste müde Junge, der ich jetzt war auch schon in dem gepflegten Jungen von damals irgendwo zu finden? Und wenn ja, war dann auch der gepflegte Junge von damals irgendwo in meiner neuen dreckigen Hülle versteckt? Und wenn ja, wie konnte ich ihn finden - und wollte ich das überhaupt?
Ich starrte weiter in den Spiegel, gefangen von der Erkenntnis wie schnell sich die eigene Geschichte doch ändern konnte und davon, dass du dein ganzes Leben herumläufst und denkst, du hast den Füller in der Hand, du schreibst die Kapitel selber, bis dir plötzlich etwas passiert, dass all die geschrieben Seiten einfach zerreist und du spürst wie sich eine Geisterhand un dene eigene schleißt und den Füller in andere Richtungen führt als du eigentlich willst. Und selbst Jahre später, wenn deine Haare geschnitten sind und deine Klamotten andere sind und du in einer anderen Stadt wohnst und denkst, jetzt hab ich den Füller wieder in der Hand, selbst dann noch überkommt dich manchmal der Gedanke, dass die Geisterhand vielleicht immernoch deine Hand umklammert und du es nur nicht mehr bemerkst, weil du dich zusehr an sie gewöhnt hast.
"Hey, Potter!", ein Ellenbogen traf unsanft in meine Seite. "Hör auf zu denken.", Boris griff sich an den Kopf und verzog das Gesicht, "Krieg schon Kopfschmerzen vom hingucken."
"Du siehst wirklich aus wie'n verficktes Mädchen.", sagte ich nochmal und schüttle den Kopf, einfach nur um irgendetwas belangloses zu sagen. "Ha!", Boris lacht und sticht mir seinen Zeigefinger in die Seite. "Du wünschtest! Dann könntest du mich ficken, ohne schlechtes Gewissen." Ungläubig starrte ich ihn im Spiegel an. Er grinste zurück, wohl wissend was ihm bevor stand. "Boris, du-", begann ich, doch er rannte schon los, laut lachend und schreiend und ich hinterher, immer hinterher. "Wenn ich dich erwische!", rufe ich, doch ich höre ihn nur kichern, während er trampelnd die Treppen runter rennt, ich immer hinter her. In der Küche angekommen, sehe ich nur noch seinen schwarzen Haarschopf durch die Terassentür. Ich renne hinaus und folge ihm, vorbei am Pool und den kaputten Liegen. Beim Zaun, der unser Grundstück von den restlischen Ruinen der Straße abgrenzte, hatte ich ihn fast eingefangen, mein Atem kurz, mein Adrenalin hoch, mein Grinsen breit, doch er kletterte flink am Zaun hoch, ich immer hinterher. Meine Hose verhang sich im Zaun und ich hörte wie ein Stück abriss, doch ich drehte mich nicht um, in diesem Spiel gab es keine Pause, hier ging es immer weiter. Am nächsten trockengelegten Pool vorbei zum verlassenen Nachbarhaus. Die Fenster hier waren nie eingesetz worden und Boris sprang ins Küchenfenster, ich hinterher und mit vor Aufregung geweiteten Augen blickte er sich im rennen zu mir um, und für eine Sekunde da, sah ich nur sein Gesicht klar in der seltsam fremden und doch vertrauten Umgebung. Alle Häuser hier in der Straße waren genau gleich gebaut, als hätte sich die Baufirma gedacht, hier sollte zwanzigmal genau die gleiche Familie einziehen und jedes Haus, jeder Haushalt, jedes Leben, ist nur eine simple Kopie von dem Leben daneben, durch Zäune und Mauern stehts so separat gehalten, dass niemand jemals dahinter kommen könnte, dass alle gleich waren und all die Individualität nur vorgespielt war, ein einfaches Spiel um ein dummes Tier bei Laune zu halten. Aber Boris' Gesicht, das blutige Rot seiner Lippen, das dunkle schwarz der Locken, dieses Schimmern in den Augen: Boris hob sich ab von den immer gleichen weißen Wänden und ich dachte, für den Beuchteil einer Sekunde, vielleicht ist Boris ja das was mein Leben von den anderen unterscheidet, vielleicht ist Boris ja diese Kraft, die aus einer Kopie ein Einzelstück, ein Meisterwerk macht. Doch dann musste ich schon weiterrennen, es gab keine Zeit für ausschweifende Gesanken, in diesem Spiel, dafür hatte Boris schon gesorgt, darum gab es das Spiel ja. Raus aus dem Haus durch die Vordertür, barfuss die staubige Straße entlang, rein in einen neuen Hinterhof und Boris wieder mit einem Sprung ins Küchenfenster und ich fast auch, aber dann dachte ich, vielleicht diesesmal das Narrativ ändern, vielleicht diesesmal etwas nen bisschen anders machen, man kanns ja mal probieren. Und so klettere ich ins Badfenster und es scheint als sei es mir nun ein Vorteil, dass jedes Leben in dieser Straße gleich aufgebaut ist, denn so wusste ich genau wo Bad und Küche aufeinander treffen - und Boris lief direkt in meine Arme. Ich packte ihn und warf mich mir ihm auf den Boden. Wir rollten über den Boden und rauften, er schlug mir ins Gesicht und ich boxte ihn in den Bauch und wir beide lachten als meine Lippe aufplatzt und Boris, der gerade die Oberhand gewonnen hatte, für den Bruchteil einer Sekunde meine Lippen mit seinen streifte und mein Blut von seinen Lippen leckte, eine winzigste Sekunde in unserem ewigen Spiel, eine winzige Sünde in einem Krieg, die nicht weiter auffällt in all dem blutigen Gemetzel und dann, weiter rollen über den Boden, bis wir schließlich schweratmend und erschöpft nebeneinander auf dem Rücken liegen bleiben, meine Hand auf seinem Bauch ruhend und seine auf meinem. Unser Atmen das einzige Geräusch in diesem immer leeren Haus. Irgendwann begann er zu sprechen und seine Stimme füllt das leere Zimmer und seine Worte reihten sich in allen uns bekannten Farben an die immer leere Wand. "Wer glaubst du hätte hier gewohnt, wenn die Baufirma richtig vermarktet hätte und die Wüste sich nicht zurückgeholt hätte, was ihr gehört?", fragte er mich. "Hm", sagte ich. "Ah ja", sagte er und wie mussten beide lachen. "Vielleicht wären hier ja zwei alte Schulfreunde eingezogen.", schlug ich vor. "So eine Art Studentenbude.", ich zuckte mit den Schultern. "Was studieren sie?", fragte Boris. "Der eine studiert amerikanische Literatur. Und weil er dann merkt, das sie schlecht ist, beginnt er russische Literatur zu studieren." "Ah, ja, gut für ihn.", sagte Boris, "und was macht der andere?" "Der andere studiert nicht", sage ich und muss grinsen, "er hat es schon probiert, weißt du, er war zwei Wochen im Literaturseminar aber die anderen Studenten haben ihn zu sehr aufgeregt, mit ihren oberflächlichen, immer das eigentliche Thema verfehlenden Fragen. Da hat er hingeschmissen. Er wollte eh nie zu diesen Akademikern gehören." "Und was macht er jetzt zuhause den ganzen Tag?", fragte Boris weiter und ich spürte, dass er den Kopf gedreht hatte und mich jetzt von der Seite aus musterte. "Wenn er alleine zuhause ist, dann schreibt er. Er sagt es niemandem, nichtmal dem anderen Jungen, aber unter seinem Bett stapeln sich die eng bechriebenen Notizbücher und egal wo er hin geht, ob beim einkaufen oder beim Gassi gehen mit ihrem Hund, er trägt immer diese Ideen in seinem Kopf herum und egal was er um sich herum sieht, Häuserwände oder Werbeplakate, er sieht immer noch ein bischen mehr, eine weitere Welt, die in seinem Hinterkopf angefangen hat Gestalt an zu nehmen und langsam aber sicher ihre Ranken ausstreckt, die Ranken einer besseren Welt." "Und?", fragte Boris weiter, "Veröffentlicht er sein Buch irgendwann?" Ich überlegte kurz. Ich wusste, was ich hier tat, aber ich konnte mich nicht mehr aufhalten. "Ja, eines Tages veröffentlicht er es." "Und gefällt es dem anderen Jungen?", Boris Stimme ist fast nur noch ein Flüstern. Meine Wangen werden warm. Ich kneife sie Augen zusammen um die Welt nicht zu sehen und doch den Mut zu finden zu sagen, was ich ihr eigentlich sagen will. "Ja, der andere Junge mag es. Sehr sogar. Denn es ist ihm gewidmet." "Ah, ich verstehe.", sagte Boris und auch wenn ich das Grinsen in seiner Stimme höre, höre ich doch auch ein wenig das Zittern, die Erregung, die Unruhe, in anbetracht der Erkenntniss, das dieses Gesrpäch hier eine Bedeutung hatte, dass es nicht nur Small Talk an der Wasseroberfläche war, sondern dass wir beriets einige Meter untergegangenen waren und jetzt bemerkten, dass wir beide vergessen hatten wie man schwamm. Unsere einzige Möglichkeit war es, sich aneinander festzukrallen und zu hoffen.
Ich musste schlucken. "Was- was hättest du gesagt?", fragte ich Boris im die Stille zu brechen, "Wer wohnt deiner Meinung nach hier?" Ich traute mich immer noch nicht die Augen wieder aufzumachen. "Oh, ich hätte ganz genau das selbe gesagt wie du, Potter." Ich hörte den Spott in seiner Stimme. Er machte sich über mich lustig. Das hatte ich verdient. "Du Idiot.", sagte ich und machte meine Augen endlich wieder auf. Wir grinsten uns an.
"Ich glaub das Haus ist froh, dass wir ihm ein wenig Gesellschaft geleistet haben.", sagte Boris, als er mir hoch half. "Jap.", sagte ich, "Wir können ja wieder kommen." Wir traten durch die Haustür aus dem Haus, so als wäre es tatsächlich UNSER Haus, so als würden wir dort tatsächlich zusammen leben, so als würden dort unter den Betten tatsächlich Notitzbücher liegen, die von unseren Geheimnissen und unserer Liebe zeugten, so als gäbe es tatsächlich eine friedliche Zukunft für uns, so als hätten wir tatsächlich irgendeine gemeinsame Zukunft und nicht immer nur den nächsten Tag un dann denn nächsten und wenn wir Glück hatten noch den überübernächsten. Boris stand neben mir und starrte ebenfalls zu dem Haus hinauf, so als wäre es irgendein Denkmal, dann, plötzlich packte er mich bei dem Handgelenk und sagte: "Lass uns verreisen, Potter."
"Was?", fragte ich, perplex.
"Ja.", er lachte, "Xandra und Larry sind weg, oder?"
"Ja, aber-"
"Und mein Vater hat zu viel Vodka getrunken und liegt jetzt Bewusstlos auf Sofa-"
"WAS?!"
"-Der wacht bist morgen Abend nicht auf. Wir sind also freie Menschen. Wir können tun und lassen was wir wollen.", sagte Boris.
"Dein Vater?", ich war immernoch erschrocken, "Sollen wir den Krankenwagen rufen? So lange bewusstlos...ich mein..."
"Nein, Potter. Er ist Russe."
Empört hob ich die Arme: "Was soll das denn bedeuten?"
"Keine Ahnung, ich bin nicht Russe.", sagte Boris.
"Hä-", doch Boris wartete nicht auf mich. Er rannte schon los. Seine Schritte wirbelten weißen Wüstenstaub auf. Ich seufzte. Dann rief ich: "Warte auch mich, du Irrer." Und dann rannte ich.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 01, 2022 ⏰

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wind, sand und sterne // boreo Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt