Mein letzter Wille

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pt. 1

Boris stand am Herd und machte Spiegelei, während ich die Überreste von gestern Abend einsammelte. Meinen Vater störte es zwar grundsätzlich nicht, dass Boris und ich jeden zweiten Tag Schule schwänzten und täglich rauchten oder tranken, aber ich wollte es ihm auch nicht direkt unter die Nase binden, weshalb ich die leeren Flaschen und Scherben in einen Sack steckte und durch die flirrende Hitze zum Container unserer Nachbarn rüber brachte.
Als ich wieder ins Haus kam, sprang Popper aufgeregt an mir auf und ab. Sein Fell war ganz verfilzt und verklebt und ich erkannte, dass es immer noch Kotze war. Genervt schleuderte ich meine Schuhe zu Seite und ging zu Boris in die Küche.
„In Poppers Fell ist auch überall Kotze, dass geht nicht raus.", sagte ich zu ihm und schaute ihm über die Schulter um zu sehen, ob er die Spiegeleier auch richtig brat.
„Ich weiß doch, Potter. Aber in deinen und meinen Haaren ist das auch noch. Ich glaub die müssen ab.", meinte er beiläufig und würzte das Ei ordentlich. „Ab?", fragte ich.
„Jaaha.", sagte er gedehnt und drehte sich zu mir um. Er schaute mich an, als wäre ich dumm: „Du weißt schon, schnipp, schnapp, Haare ab." Mit Zweigefinger und Mittelfinger stellte er eine Schere da.
„Hm-hmm.", meinte ich nur, setzte mich an den Küchentisch und wartete bis Boris mit dem Frühstück fertig war.
Ich schaute aus der Terrassentür über den Pool hinweg und noch viel viel weiter, bis hin zu irgendeinem Punkt der Unendlichkeit, ganz weit weg in der Wüste. Boris hatte schon recht, Haare schneiden war keine schlechte Idee, schließlich hatte ich mir seit ich in Las Vegas angekommen war, nicht mehr die Haare geschnitten und sie waren mittlerweile ziemlich lang, genauso wie die von Boris, verfilzt und trocken, von Chlor und Sonne und Unüberlegtheit.
Doch der Gedanke etwas so normales zu machen, etwas das früher meine Mutter gemacht hatte, war irgendwie verwirrend und tat weh.
Klar, auch nach dem Tod meiner Mutter, hatte mich Mrs. Barbour einige Male mit zu Andys Friseur geschleppt, doch seit ich in Vegas war, hatte ich nichts mehr so gemacht, wie ich es damals in New York gemacht hatte.
Mein Leben folgte hier neuen Regeln, neuen Zeiten, hing an anderen Leuten, an anderen Orten. Und etwas so normales hier her zu holen erschien mir irgendwie komisch, es erschien mir dumm, etwas hier her zu holen, dass mich an meine Mutter erinnerte, wo hier doch eigentlich nichts war, was mich an sie erinnern sollte.
Doch eigentlich war auch das gelogen, denn genau genommen erinnerte mich doch alles an sie: das Blau des Wassers, die Vollkommenheit des Mondes, das Leuchten der Sterne in der Dunkelheit, das Kleingedruckte in Schulbüchern, dass sie bestimmt gelesen hätte, die Leere in der sie sein sollte.
Und wenn ich auf etwas stieß, dass mich gar nicht an sie erinnern konnte, weil sie es gar nicht gekannt hatte, dachte ich mir sofort: davon muss ich ihr erzählen!, bis Sekunden später die Erkenntnis, dass ich ihr nie wieder etwas erzählen würde, mit all ihrer Wucht einschlug.
In der Küche war es still, nur die Geräusche der Hitze zirpten um uns herum, und wir hingen beide unseren Gedanken nach.
Plötzlich stellte Boris klappernd die Pfanne vor mir ab und hielt mir eine Gabel hin. Erschrocken schaute ich auf. „Gott, Potter, du siehst nicht gut aus. Hängst du so sehr an deinen Haaren?", fragte er und zupfte an einer Strähne meiner dunkelblonden Haare. „Was? Nein. Ich bin bloß...in Gedanken.", antwortete ich. „Du bist immer in Gedanken. Du denkst zu viel, glaube ich. Nicht gut für den Kopf, weißt du. Macht irgendwann einfach PUFF!", sagte er und stellte mit seinen Händen eine Explosion neben seinem Kopf da. „Wie nennst du das, hmm? Overthinken, oder? Nicht gut, Potter, glaub mir. Und soll ich dir auch sagen was dagegen hilft?", fragte er und stoch mir mit seiner Gabel ins Kinn, weil ich noch immer zur Terrasse geschaut hatte. „Trinken, Potter, du musst mehr Trinken.", sagte er und griff nach einer halbleeren Bierflasche, die auf dem Tisch stand und trank einen Schluck.
Ich prustete los: „Wow, Boris! Ganz toll! Das kommt dann wohl auf die Liste, mit den Lebensweisheiten von Boris Pavlikovsky!", sagte ich, noch immer lachend. Ich drehte mich zu meinem imaginären Publikum um: „Habt ihr alle gehört, Kinder? Habt ihr gehört, was Onkel Boris gesagt hat? Wenn ihr nicht mehr weiter wisst, dann trinkt einfach!", meine Stimme triefte vor Ironie, als ich mich zu Boris umdrehte. Doch er zuckte nur unschuldig mit den Schultern. „Dann iss wenigstens was, Potter. Wird kalt.", er schob mir die Pfanne mit dem Spiegelei hin und wir aßen beide aus der Pfanne.
In weniger als fünf Minuten hatten wir still schweigend alles in uns hineingestopft.
Aber genau das waren wir eben, immer hungrige, von inner verblutende, vernachlässigte Jugendliche.
Es lag bloß noch ein einziger Bacon in der Pfanne und wir schauten uns an. „Alsoo, ich würde ihn ja dir überlassen, aber...", begann er, doch ich sah meine Chance und wollte sie ergreifen. Ich stürzte mich nach vorne, aber Boris musste etwas in meinen Augen gesehen haben, denn im selben Moment riss auch er seinen Oberkörper nach vorne, mit den Augen das letzte Stück Bacon fixierend. Unsere Köpfe knallten genau über dem gebratenen Schinken zusammen, meine Stirn an seine Stirn. Augenblicklich durchfuhren mich die Wellen des Schmerzes und ich zog mich zurück, mit den Händen vorsichtig meine Stirn betastend. „Ahhhh", ich zog scharf die Luft ein. Ich hörte Boris lachen, doch als ich zu ihm schaute und sah, dass er auch einen roten Fleck an der Stirn hatte, hörte er auf zu Lachen. Er schien sich nicht für seine Wunde zu interessieren, stattdessen schaute er besorgt zu mir herüber. „Alles okay, Potter? Ich hab Dickschädel, weißt du doch - Hat auch meine Mutter schon gesagt.", ein trauriges Lächeln breitete sich auf Boris Gesicht aus. „Ist schon okay, Boris.", behauptete ich, obwohl mein Kopf noch immer dröhnte, was aber auch von dem Alkohol kommen konnte, denn wie gestern Nacht getrunken hatten.
„Bei dir auch alles okay?", fragte ich und er nickte abwesend. Ich wusste nicht was los war, ob ich ihn fragen sollte, oder einfach in Ruhe lassen sollte.
Vermutlich dachte er über seine Mutter nach, und da ich selbst nur allzugut wusste, wie sich das anfühlte, wollte ich ihm irgendwas Gutes tun. Ich wollte ihn in den Arm nehmen, wollte ihn wärmen, wollte ihm sagen, dass alles gut werden würde, wollte ihm erklären, dass ich für immer bei ihm bleiben würde.
Doch irgendetwas hielt mich davon ab, ich bekam meine Beine nicht von dem Stuhl geschoben, konnte nicht aufstehen, es war wie wenn man oben auf dem Zehn-Meter-Turm steht und sich selbst verspricht bei drei runter zu springen, dann aber eine Millisekunde zu lange zögert, und sich die Beine dann einfach nicht nach vorne bewegen, angewachsen, festgehalten von der Angst.
Und so streckte ich bloß meine Hand aus, eigentlich wollte ich ihm über die Wange streichen, doch stattdessen schlug ich ihn nur zweimal leicht hintereinander auf die Wange, um ihn aus seinen Gedanken zu holen. Verwirrt schaut er auf, ich sah wie seine Augen verängstigt in ihren Höhlen hin und her sprangen, auf der Suche nach etwas in dem Raum, dass er kannte, an dem er sich festhalten konnte.
Dann fand sein Blick meinen.
Und ich sah wie sein Blick für einen Moment weich wurde, weich und verletzlich, aber nicht mehr so verloren.
Er hob seine Hand, und nahm meine Hand, die noch immer neben seiner Wange in der Luft schwebte. Ich spürte wie kalt seine Finger waren, als er meine nahm und sie sich kurz an die Wange drückte, die ich eben noch geschlagen hatte.
Wir schauten uns an, ich sah nichts anderes, nur ihn und seine Augen, meine hellbraunen Augen in seine dunkelbraunen Augen, und in diesem Moment versuchte ich ihm mit meinem Blick all das mitzuteilen, was ich nie sagte und nie sagen würde, was ich aber tief im inneren fühlte.
Ich versuchte ihm all das zu sagen, was unausgesprochen zwischen uns lag.
Erst viel später würde ich verstehen, dass man all das Ungesagte in drei Worte fassen konnte.

wind, sand und sterne // boreo Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt