Blau mit Blubberblasen

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Die Sonne brannte heiß auf uns hinab, und ich würde ja gerne sagen, dass es ein besonders schöner Sommertag war, doch tatsächlich waren hier alle Tage ziemlich gleich: grell, hell und am nächsten Morgen schon wieder verschwommen.
Dieser Morgen war besonders unangenehm gewesen. Die weißen Sonnenstrahlen hatten mich früh geweckt und ich war mit brummendem Schädel und Rückenschmerzen aufgewacht. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hatte ich mich aufgerichtet und gegen das Licht zu Boris herüber geschaut. Friedlich lag er da: Fast nicht bekleidet, in einem Rechteck aus Sonnenlicht, dass durch das Fenster herein viel. Er sah aus wie ein Heiliger, erhellt von dem reinen Licht, doch etwas hatte das Bild gestört. Ich hatte mich ein wenig Vorgebeugt um besser erkennen zu können, was es war, und in dem Moment, wo ich die gelbliche Kotze auf seinem Körper verteilt sah, nahm ich auch den ranzigen Geruch war und augenblicklich wurde mein Körper von einem Würgereiz durchgeschüttelt.
Ich drehte mich von Boris weg, um nicht länger auf Erbrochenes blicken zu müssen und richtete mein Blick auf meine Matratze. Doch unglücklicherweise war auch sie von Erbrochenem übersehen und als ich an mir herunterschaute, sah ich, dass auch auf meinen Armen Kotze festgetrocknet war. Mein magerer Körper wurde erneut von einem Würgereiz durchgeschüttelt und ich schloss die Augen, um mich daran zu hindern, auf Popper zu kotzen, der sich auf meinem Kopfkissen zusammen gerollt hatte. Ich spürte die Sonne auf meinen nackten Rücken scheinen. Unter anderen Unständen, wäre ich vermutlich bloß kurz aufgestanden, hätte eines von Boris' schwarzen „Never Summer" T-Shirts vors Fenster gehangen, Popper von meinem Kissen verscheucht, oder meinen Kopf auf Boris Bauch gelegt und hätte den Rest des Vormittags nochmal geschlafen.
Doch plötzlich kam mir ein Gedanke in den Sinn: ich hatte schon oft gehört, das Leute nachts Kotzen müssen und dann im Schlaf an ihrer eigenen Kotze ersticken.
Erschrocken fuhr ich herum, ignorierte die Kotze und rüttelte Boris an beiden Schultern. „Boris! Boris! Aufwachen! Ist alles in Ordnung bei dir?!", fuhr ich ihn hysterisch an. Ich sah wie er wütend seine Augenbrauen zusammenzog und noch mit geschlossenen Augen und im Halbschlaf bockig meine Hände zur Seite schlug. „Potter...ich...schlafen.", murmelte er. Ich betrachtete die Stelle an meinem Arm, wo er mich geschlagen hatte. Er hatte es nicht böse gemeint, aber die Stellen wurden schon rot, und ich wurde auf einmal von eine Welle aus Wut auf ihn überrollt: „Mann, Boris! Du kannst jetzt nicht weiter schlafen! Schau dich doch Mal hier um!"
„Natürlich, Potter. Schlafen geht immer! Schlafen ist das Beste. Wenn du nicht mehr schlafen kannst, dann komm zu mir. Ich sing dich in den Schlaf, Potter.", feixte er und ich sah wie sich sein rechter Mundwinkel hob, als er seine Arme nach mir ausstreckte um mich neben ihn auf die Matratze zu ziehen. Er öffnete sogar seine Augen einen Spalt breit um meine Reaktion zu sehen. „Freust du dich denn gar nicht?", sagte er mit gespielt traurigem Unterton und ließ die Arme enttäuscht fallen. Doch ich hatte keine Lust auf seine Spiele, war nur genervt von seiner Art alles als Spiel zu betrachten, war genervt von seiner Art, immer davon auszugehen wir hätten noch einen Joker auf der Hand um das Spiel zu unseren Gunsten zu drehen, obwohl das, im Nachhinein, das ist, was ich am meisten an ihm bewundere: Die Kunst, aus allem herauszukommen, die Kunst sich Flügel aus dem Müll zu basteln, den die anderen Leute ihm zugeworfen haben, die Kunst zu fliegen.
Doch in dem Moment hatte ich keinen Blick für Boris Lebensphilosophie, ich war nur angeekelt und gestresst, von dem Saustall um uns herum. Aus einer Laune, einem Impuls heraus, verpasste ich ihm eine Backpfeife. „Boah, Potter, was ist den los?!", seine Stimme war laut und genervt aber es lag noch etwas anderes in ihr, etwas das ich später als das Deuten würde, was nicht alle sehen können, etwas das tiefer in ihm schlummert.
Die Verletzlichkeit.
Es ist nicht so, dass wir uns nicht oft schlagen oder treten würden, aber dann immer aus einer Laune von uns beiden heraus, wenn wir wild und aufgekratzt waren, doch in diesem Moment, hatte er nicht damit gerechnet, wie er da so halbnackt im Bett lag, ungeschützt und sich wohl trotzdem hier bei mir, bei dem einzigen Menschen, der sich wirklich um ihn sorgte, behütet gefühlt haben musste. Ich hatte ihn in einem Moment getroffen, in dem er nicht damit gerechnet hatte, in dem er sich wohl gefühlt hatte, und ich musste ihn damit anscheinend ziemlich erschreckt haben. Blitzschnell saß er aufrecht im Bett und hatte die Arme in einer Abwerhaltung vor der Brust verschränkt.
„Jaa, schau dich doch mal um. Hier ist überall Kotze.", ich machte eine allumfassende Geste und erfreute mich ein wenig an Boris Gesichtsausdruck, als er erschrocken und angeekelt auf seine Arme, auf mich und auf unsere Matratzen schaute. Noch nie hatte ich ihn so schnell aufspringen gesehen, wie in diesem Moment. In einer einzigen Bewegung zog er sich das T-Shirt über den Kopf, dass ebenfalls voll mit grün-gelber Kotze bedeckt war. Ich war ebenfalls aufgestanden.
„Ihhhl, Potter. Sag, dass doch gleich, dass hier überall Kotze klebt!", sagte er und schaute mich Vorwurfsvoll an. Empört hob ich die Arme, und schaute ihn verständnislos an. Das war es doch gewesen, was ich ihm die ganze Zeit hatte sagen wollen!
Doch in diesem Moment verwandelte sich sein vorwurfsvoller Blick in ein Lächeln. Im Vorbeigehen, schnippste er mir gegen sie Stirn: „Lass dich nicht so leicht von mir provozieren, Potter!" Fassungslos schaute ich ihm nach. Er kickte Popper mit dem Fuß vom Kopfkissen: „So, du kommst mit duschen, Poptchyk. Hast dich in letzter Zeit echt ein bisschen gehen lassen, was alter Junge?" Im Türrahmen drehte er sich zu mir um: „Kommst du jetzt? Oder willst du doch noch ne Runde kuscheln?", er breitete seine Arme aus, so dass der Weg in den Flur versperrt war. Ich verdrehte die Augen, boxte ihm gegen die Brust und tauchte dann unter seinem linken Arm hindurch.
„Eyy, das war ein miser Trick! Foul!", schrie Boris und rannte hinter mir her. Ich schlitterte die Treppen runnter, Boris und Popper, der immer von unserem Enthusiasmus angesteckt wurde, mir Dicht auf den Fersen. Ich sprang über Boris schwarze Stiefel über die ich schon hundertmal Nachts gestolpert war, stoß mich am Küchentisch ab, zog die Terrassentür auf und wollte mich gerade umdrehen, um sie hinter mir zu schließen, so dass Boris mir nicht folgen konnte, als ich mitten in der Bewegung inne hielt. Augenblicklich spürte ich, wie ein weiches Fellbüdel gegen meine Beine knallte und ein weniger weicher Junge gegen meinen Rücken. Keuchend taumelte ich nach vorn, doch Boris packte mich von hinten an den Schultern und hielt mich fest. „Was denn los, Potter? Ist dein Besen kaputt gegangen, oder warum diese Vollbremsung?", fragte Boris von hinten und seine widerspenstigen Locken kitzelten mich im Nacken.
Ich ging nicht auf seine Frage ein, sondern sagte lediglich, noch immer auf das vor mir starrend: „Ach du heilige Scheiße Boris, was ist den hier passiert?" Jetzt zwängte sich Boris an mir vorbei und schaut auch auf das vor uns: Überall im Garten verteilt, standen etliche leere Bierflaschen, einige verbrochen, einige noch ganz. Es waren bestimmt an die zwanzig Flaschen, die neben dem Pool, in der Außendusche oder auf den Liegen lagen. „Ahh ja.", Boris sog scharf die Luft ein, „Das hatte ich schon fast wieder vergessen." Er rieb sich die Stirn, als hätte er plötzlich einen Migräne-Anfall. Ich drehte mich zu ihm um. „Bitte, Boris, bitte sag mir, dass wir eine Party gefeiert haben und ganz viele Leute eingeladen haben, die all die Bierflaschen leer getrunken haben.", ich sah ihn flehent an. „Ahh, dass sieht eher schlecht aus, denke ich.", meinte er und blickte zu mir rüber. „Oder, bitte, bitte, sag mir, dass Popper plötzlich Alkoholiker geworden ist, und alle Flaschen ausgetrunken hat.", fragt ich ihn mit großen Augen. „Hmm, dass wohl schon eher. Was meinst du?", fragte er und hob Popper in die Luft. „Poptchyk, hast du uns was mitzuteilen? Hmm?", er schüttelte den Hund ordentlich durch und ich hatte Angst, dass Pops auch anfangen würde zu Kotzen, ich hatte für diesen Tag wirklich genug Kotze gesehen, und riß ihm den Hund aus der Hand. Ich versuchte nicht darüber nach zu denken, was wir gestern Nacht gemacht hatten und beschloss stattdessen, dass wir jetzt mal ganz dringend duschen mussten und zog Boris mit mir zu den Außenduschen.
Es war wie eine Erlösung, als ich die Dusche anstellte und das reine Wasser auf mich herab tröpfelte. Ich wollte einfach nur alles abwaschen, nicht nur die Kotze, sondern auch den ganzen restlich Scheiß der letzten Wochen, unseren übertriebenen Alkoholkonsum, unsere endlosen schlaflosen Nächte, die Zigaretten die wir täglich rauchten, und vorallem das Bild meiner Mutter, ihr letztes Lächeln, den Druck ihrer Finger auf meiner Schulter, der ganz anders war als der von Boris Fingern. Ich wollte einfach nur ihr Bild loswerden, dass sich in meine Augenlieder eingebrannt hatte, ich wollte nicht mehr an sie denken, so wie ich täglich, fast stündlich an sie dachte, und auch, wenn alle immer sagten, mit der Zeit wird es besser, hatte ich das Gefühl, dass der Abstand, zwischen den Momenten in denen ich an sie dachte, mit jeder Minute, die sie weiter von mir entfernt ist, immer kürzer wird.
Leise liefen mir Tränen an den Wangen hinunter, still und heimlich, getarnt unter den Wasserstrahlen der Dusche. Ich hörte Boris neben mir auf Russisch fluchen und ich blickte zu ihm herüber, doch ich konnte nichts erkennen, da die Tränen einen Schleier vor meine Augen gelegt hatten, der alle Farben flüssig ineinander übergehen ließ und die Konturen verschwimmen ließ. Und auch wenn ich eigentlich eine erstklassige Profession in stillen Weinen inne hatte, aufgrund von dutzenden Abendessen, sowohl bei den Barbours, als auch hier in Vegas, die mir Fremd und Unwirklich vorkamen, bis ich verstand, dass dass hier jetzt mein zuhause war, mein zuhause - ohne sie.
Mir wurde dann immer ganz schlecht, und etwas Festes setzte sich in meinem Hals fest, dass kein Essen mehr hindurchlassen wollte, und ich ließ, den Kopf stehts gesenkt, die Tränen laufen, eine nach der anderen, und beobachtete wie sie auf meinem Teller aufkamen. Niemals ist es jemandem aufgefallen und wenn ich mir doch ab und zu ein Stück Essen in den Mund drückte, um den Anschein der Normalität zu wahren, hatte es keinen Geschmack, kratze nur meinen Hals von innen auf und lag dann schwer in meinem Magen. So hatte ich dutzende Abendessen verbracht, unentdeckt oder ignoriert, und so war es auch jetzt, hier neben Boris.
Doch Plötzlich durchzuckte mich die Trauer am ganzen Körper und ich schnappte nach Luft, während meine Schultern nach oben zuckten, und mir statt Luft, Wasser aus der Dusche in die Lungen kamen. Es muss komisch ausgesehen haben, und ein noch komischeres Geräusch gemacht haben, dieses verzweifelte, aus dem nichts kommende nach Luft schnappen, und gleich darauf das Husten, mit dem Oberkörper nach vorne gebäugt, weil sich alles in mir zusammengezogen hatte, alles schmerzte. Jemand Fremdes hätte diese schnelle Abfolge von Bewegungen wohl möglich gar nicht verstanden, oder falsch gedeutet, doch Boris schien mich gut genug zu kennen, oder die Trauer, die tief in uns beiden war, aber vielleicht war das ja auch das selbe, Trauer und Ich, und ich war nichts mehr als diese tiefe, dumpfe, alles auslöschende Trauer, die mich von innen heraus steuerte und leiden ließ, und mich zu einem Gefangenen meines eigenen Körpers und Geistes machte.
Aber Boris schien zu verstehen, denn kurz darauf, fand ich mich in seinen Armen wieder. Er war ein gutes Stück größer als ich und so hatte er meinen Kopf in eine seiner Hände genommen und ihn in die Beuge über seinem hervorstehenden Schlüsselbein gepresst. Mit seiner anderen Hand strich er mir vorsichtig über den Rücken, unsicher, fast ohne Berührung, wie ein Schmetterlingsflügel. Sein Kinn streifte unruhig meinen Kopf, flatterhaft, als wüsste er nicht wohin mit seinem eigenen Kopf. Und so standen wir da, kühle, nasse Haut, an kühler, nasser Haut, ich immer noch zitternd, und ich ließ mich ganz in seine Umarmung fallen, und mir wurde erst jetzt bewusst, wie lange es her war, dass mich zuletzt jemand länger als zwei, drei Sekunden umarmt hatte, mich jemand umarmt hatte, nicht weil er musste, nicht als Höflichkeitsfloskel, sondern weil er wollte. Und so lehnte ich kraftlos gegen ihn, meine Arme schlapp an meinem Körper herabhängend, meine Schultern noch immer auf und ab zuckend. Ich weiß nicht wie lange wir so da standen, ich hatte die Augen geschlossen, doch noch immer quollen Tränen aus meinen Augen, die sich in der Kuhle seines Schlüsselbeines sammelten. Ich vergass für kurze Zeit alles, ignorierte das flaue Gefühl in meinem Magen, ignorierte die Unsicherheit, und als ich spürte, wie er schließlich doch sein Kinn auf meinem Kopf ablegte, und ich einen nassen Tropfen auf meinen Haaren aufkommen spürte, konzentrierte ich mich ganz auf seine Körperwärme, und hob schließlich meine Arme, in denen endlich wieder etwas Gefühl war und legte sie um seinen mageren Rücken.
„Theo.", flüsterte er und es war das einzige Mal in meiner Zeit in Vegas, dass er mich so nannte.
Wir standen noch einige Minuten so da, aber es könnten auch Stunden gewesen sein, und vielleicht sogar Jahre, in denen nur Stille um uns herum war.
Wir waren an keinen Ort, wir waren nicht mehr in Vegas, ich hatte die Augen geschlossen und vielleicht waren wir auch am anderen Ende der Welt oder am anderen Ende einer anderen Welt, vielleicht waren wir ein halbes Jahrzehnt vor unser eigentlichen ersten Begegnung, vielleicht waren wir drei Milliaden Jahre nach unserem Tod - unsere Umarmung war vollkommen losgelöst von allem was sich die Menschen jemals ausgedacht hatten und ausdenken würden, ungebunden an Zeit und Raum, einfach eine Sache für sich selbst, mit andere Bedeutung, als alles was hier unter der alles verbrennenden Sonne eigentlich von Bedeutung ist.
Plötzlich und abrupt wurde die Stille von Boris lauter Stimme unterbrochen: „Gott, Potter, da ist soviel getrocknete Kotze in deinen Haaren, dass geht nie wieder raus!", er lachte ein heiseres und ein wenig hysterisches Lachen und wuschelte mir durch die Haare. Ich schaute zu ihm auf und die Tatsache, dass meine Augen ganz rot und verweint sein mussten, störten mich nicht.
Ich verzog das Gesicht, als ich sah, dass auch seine Locken verklebt waren. „Tja, da gibt es wohl nur eine Möglichkeit.", sagte Boris und zog die linke Augenbraue hoch während er mit den Schultern zuckte. Ich schaute ihn verständnislos an. Seine Augen weiteten sich vor Vorfreude und ich sah den Schalk darin lachen: er freute sich, dass ich nicht wusste, was er vor hatte, dass er immer noch so unberechenbar für mich war, auch wenn er mich gerade so sensibel in den Arm genommen hatte.
„Ab in den Pool!", rief er und senkte im selben Moment schon den Kopf und streckte die Arme nach vorne aus, wie ein Football-Spieler, oder eher wie ein Stier, rannte auf mich zu, packte mich bei den Hüften und schob mich ins Becken. Ich ruderte erschrocken mit den Armen, bekam ihn dann aber noch am Finger zu packen und zog ihn mit mir. Ich fiel mit dem Rücken zur Wasseroberfläche nach hinten um und Boris flog über mir, und im Fall, sah ich sein Gesicht, sein Lachen, voller Freude über das was eben passierte, und ich glaubte dazwischen auch ein wenig Erleichterung zu sehen, Erleichterung darüber, dass er wieder in seinem Element war, impulsiv, laut, unberechenbar und nicht sensibel, verletzlich und beschützend.
Es hätte weh tun müssen, als ich auf der Wasseroberfläche aufkam, doch ich dachte gar nicht darüber nach, auf dem Wasser aufzuprallen, war mir, so naiv wie ich damals ab und an war, sicher, dass ich direkt mit dem Wasser verschwimmen würde, willkommen geheißen werden würde, ein flüssiger Übergang. Und ich hatte Recht, so hatte es in meinen Gedanken auch gar keine andere Möglichkeit gegeben.
Ich hörte nur ein lautes Platschen und dann direkt das Rauschen des Wassers in meinen Ohren, überall war Wasser, links von mir, rechts von mir, unter mir, über mir. Ich öffnete meine Augen und ignorierte das beißende Chlor im Pool, genoß die stille Anonymität, die einem das blaue Wasser verlieh, genoß die immer gleich bleibende Langsamkeit und Geschmeidigkeit der Bewegungen unter Wasser, genoß die Schwerelosigkeit und die Richtungslosigkeit.
Überall war Blau und Blubberblasen, und alles war unscharf und weich. Meine Haare waberten glücklich um mein Gesicht, und ich sank immer weiter zu Boden, oder vielleicht flog ich auch, denn es gibt kein Unten und Oben, wenn es kein Licht gibt, und wenn es kein Unten und Oben gibt, dann gibt es auch keinen Unterschied zwischen fallen und fliegen.
Und dann war auch er plötzlich da, und dann war er doch das Licht, seine Haare, seine ganze Figur umrandet von brennenden Licht in eigentlich löschendem Wasser.
Seine Haare lockten sich schwerelos durchs Wasser und streiften mein Gesicht, und seine Hände drückten mich noch tiefer in das Wasser, in das unendliche Unbestimmbare. Und je tiefer wir kamen, umso schwereloser waren wir, je tiefer wir kamen, desto mehr verschwammen die Farben um uns und mit uns. Da war nur noch das Blau, helles und weniger helles und dunkles und mehr dunkles, und sein schwarz und weiß und grau.
Die Luftblasen gaben zusätzlich ihr bestes alles unkenntlich zu machen, und gaben mir das Gefühl wir wären umgeben von hunderten Glitzerpartikeln. Überall waren sie, zwischen seinen Wimpern, in seinen Augenwinkeln, an seinen Haaren. Ich spürte seinen Wimpernschlag auf meiner Wange und dann eine leichte Berührung auf meinen Lippen.
Ich streckte ihm meine Arme entgegen.
Und er ergriff sie.
Wären wir für immer hier unten geblieben, es hätte mich nicht gestören. Wäre das Wasser langsam in meine Lungen eingedrungen, ich hätte mich nicht beklagt. Für immer hier unten im Unbekannten, im Unbegrenzten, mit ihm hier.
Doch dann kam der Grund.
Mein Rücken rammte gegen die Fließen am Boden des Pools und mit einem Schlag wurde ich zurück in die Wirklichkeit geholt. Ich stieß mich mit meinen Füßen vom Boden ab und stieg nach oben auf, begleitet von unseren stillen Gesellen, den Luftblasen bis ich an der Oberfläche panisch nach Luft schnappte.

Später war ich mir nicht mehr sicher was dort unten passiert war. Ich weiß nicht, ob es bloß ein Traum war, ich habe alles bloß wage in Erinnerung, wie eine verlaufende Zeichnung mit Aquarellfarben, ich weiß nicht ob sich unsere Lippen wirklich berührt haben, oder ob es nur vorbeiziehendes Wasser war, ich weiß nicht ob es wirklich er war, oder bloß eine eigene Kreation des Wassers.
Aber ehrlich gesagt ist mir auch egal, was es war, tief unter der Wasseroberfläche, Traum oder Realität, Lüge oder Wahrheit. Letztendlich besteht der einzige Unterschied zwischen diesen beiden auch nur im Glauben.

wind, sand und sterne // boreo Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt