Ein alter Freund

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Die Welt um mich herum war verschwommen, wobei ich nicht feststellen konnte, ob es an dem Regen lag, oder an dem Tränenschleier, der sich über meine Augen gelegt hatte. Ich hastete durch die nassen grauen Straßen, eilte im Slalom um die Menschen herum, versuchte nicht aufzuschauen, konzentrierte meinen Blick auf die Pfützen auf dem Boden, verlor mich in dem Gedanken, dass diese schimmernden Wasseroberflächen vielleicht Tore in andere Welten waren, Welten in denen Vögel frei flogen, und nicht festgekettet waren, Welten, in denen Eltern am Leben blieben, Welten in denen Liebende zusammen fanden.
„Passen Sie doch auf.", fährt mich jemand an, als ich ihn versehentlich anremple. Meine Beine zittern und die schneidende Herbstkälte lässt mich frieren.
Ich habe mich verlaufen. Ich muss kurz auflachen, ein ironisches Geräusch in der klirrenden Kälte. Ich habe mich tatsächlich in New York verlaufen, wie lange war das nicht mehr passiert? Zuletzt habe ich mich wohl als kleiner Junge verlaufen, doch wenn ich jetzt zurück denke, an den Jungen, der mit Matchboxautos gespielt hat, der Junge der stolz seinen Schultanzen zur Grundschule getragen habe, erkenne ich mich darin nicht wieder, sehe bloß jemand anderen, einen Abzug meiner selbst, bloß in Farbe und weniger abgegriffen, doch als mich die Erkenntniss trifft, warum diese Personen in meinem Kopf für immer getrennt bleiben werden, bleibe ich keuchend auf der Straße stehen. Der Junge war davor. Bevor all das pasiert ist. Vor diesem Tag im Museum. Davor und Danach. Zwei verschiedene Personen, Welten von einander entfernt.
„Tschuldigung? Haben Sie sich verlaufen? Geht es ihnen gut?", eine nette Stimme neben mir, doch sie dringt nicht zu mir hindurch, ich nicke nur abwesend, spüre wie sich meine Turnschuhe mit Wasser voll saugen: ich stehe in einer Pfütze. Eilig gehe ich weiter, jede Straße sieht gleich aus, und doch auch wieder nicht, jede ist dunkler als ihre Vorgängerin, aber dann am Ende der Straße, die künstlich strahlende Rettung: ein Einkaufszentrum. Ich lasse mich von dem Strom der Leute mittragen, hinein in die Mall, und lasse mich auf die erst beste Sitzmöglichkeit fallen. Ich fahre mir mit der Hand über die Stirn: ich bin schweißgebadet. Scheiße, scheiße, scheiße, denke ich. Ich blicke nach rechts. Neben mir sitz ein älterer Mann, vielleicht schon ein Opa, der gerade die Zeitung zusammen faltet. Und auf einmal überkommt mich der überwältigende Drang mit jemandem zu reden, jemandem alles zu erzählen, mich richtig mit jemandem zu unterhalten, keine aufgesetzten Gespräche, die an dir vorbei ziehen wie Sommerwolken. Ich wollte Gewitterwolken und Schnee und Hagel in Kauf nehmen, wenn mir bloß jemand mal wieder richtig zuhören würde. Ich räuspere mich und schaue zu dem alten Mann hinüber. Er hebt eine Augenbraue. „Wissen Sie", beginne ich, „ich habe mich gerade verlaufen. Ja, richtig verlaufen, obwohl ich schon immer hier lebe, gut, da gab es ein paar Jahre in Vegas, aber es war doch immer New York, verstehen Sie? Aber gerade, verdammt, Orientierung komplett weg, kennen Sie das?"
Der alte Mann starrt mich an, als wäre ich nicht von dieser Welt (oh, ich wünschte es wäre so) und ich nehme meinen Faden eilig wieder auf. „Nunja, ich habe mich auch nicht einfach so verirrt, eigentlich war ich mit meiner Freundin zum Dinner verabredet, aber dann-."
„Tschuldigung, aber ich muss jetzt wirklich weiter.", nuschelte der alte Mann, packte hastig seine Zeitung ein und verschwand in der Menge. Ausdruckslos schaue ich ihm nach.
„Eigentlich war ich mit meiner Freundin zum Dinner verabredet, aber dann dachte ich, ich hätte einen alten Freund auf der Straße gesehen.", sagte ich leise in das stetige Rauschen des Stroms, der meine Worte augenblicklich verschluckte. 
Um ehrlich zu sein dachte ich, ich hätte Boris gesehen. Ich war auf dem weg zu Kitsey, und es hatte gerade begonnen zu regnen, als ich aufschaute, und ich ein verschwommenes Gesicht vor mir sah, lange schwarze Locken und einen schwarzen Regenschirm - dieser verflixte schwarze Regenschirm - der einen Schatten über die Person gelegt hatte. Für einige Sekunden war ich wie erstarrt gewesen, mein Körper hier, aber mein Geist wo anders, mein Geist in Las Vegas, wo Boris ist, Boris, Boris, Boris, der unter der prallen Sonne den schwarzen Regenschirm aufspannt und mir einen Blick zuwirft: „Was ist Potter, huh? Schau nicht so blöd. Ich mag halt keine Sonne. Komm lieber mit unter den Schirm." Und dann, als mein Geist zurück in meinen Körper gefahren war, war ich herum gewirbelt, immer hinter der dunkeln Gestallt her und auch wenn ich mir die ganze Zeit sagte, dass es keinen Sinn ergab, konnte ich nicht umhin mir selbst die Antwort zu geben: Wann hat Boris je Sinn gemacht? Und so verfolgte ich den Fremden bis ich nicht mehr wusste wo ich war, bis er an einer Ampel stehen blieb und ich ihn für einen Moment genau mustern konnte und mit einem überwältigenden Stechen in der Brust ferststellen musste, was ich von Anfang an gewusst hatte: Es war nicht Boris. Schwarze Locken, ja, aber diese waren nicht wie Boris', diese waren definiert, nicht frei und wild. Dunkle Augen, ja, aber diese waren platt, ohne Planeten dahinter. Die hohen Wangenknochen fehlten, die tiefen Augenringe, die Narbe unter dem linken Auge. Wie ich diesen Fremden da sah überfielen mich zwei Erkenntnisse, die mich seit dem unruhig durch die Straßen New Yorks trieben: Erstens, dieser Mann hatte nichts gemein mit Boris. Zweitens, ich vermisste den wahren Boris, verdammt.
Ich blickte auf, suchte in der verlaufenden Menge nach einem Anzeichen in welcher Mall ich mich befand, doch mein Unterfangen wurde sabotiert, sabotiert von meinem eigenen Verstand, so glaubte ich unzählige Borise in der Menge zu erkennen, die nach mir riefen, die mir die Hand entgegen strecken, die sich von mir abwandten. Ich schloss die Augen, doch riss sie sofort wieder auf: auf die Innenseite meiner Lieder musste sich das Bild von Boris gebrannt hatte, seine aufgeplatzten Lippen, seine vom Vodka geröteten Wangen, der Ausdruck in seinen Augen, bevor er mich geküsst hatte.
Ich stand schwankend auf, schleppte mich durch die breiten Gänge des Einkaufszentrums, bis ich schließlich vor dem Schaufenster eines Buchlandens anhielt. Ein Buchladen, eine Zuflucht in Not. Ich blickte geradewegs auf die Jugenliteraturabteilung, auf viele Bücher, die auch ich früher gelesen hatte, und ich brach in hysterisches Lachen aus, als ich mich an das unbefriedigende Gefühl zurück erinnerte, wenn man seine Lieblings-Reihe gerade beendet hatte, das letzte Buch zu klappte, die Hauptcharaktere sich endlich geküsst hatten, und man einfach nicht aufhören konnte, sich zu fragen: Was passiert danach? Was passiert nach dem ersten Kuss? Ich lachte und eine Mutter und ihre Tochter, die aus dem Laden liefen schauten mich komisch an. Ich lachte noch lauter und lehnte mich gegen das Schaufenster. Nichts, dachte ich und schüttelte den Kopf, nichts passiert nach dem ersten Kuss. Ein Kuss ist alles was du kriegst.
Ein Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken und ich schaue verwirrt auf. Eine Buchhändlerin klopft von innen gegen das Schaufenster, gegen das ich wohl undekorativ lehne. Sie macht eine wedelnde Handbewegung, ich soll gehen. Ich reiße mich zusammen und stolpere weiter, die grellen Lichter der Mall blenden mich, tun mir im Auge weg und ich komme nicht an dem Gedanken vorbei, mir vorzustellen, ich und Boris wären hier zusammen, wären jung, wären high und die Lichter über uns wären Sterne. Scheiße, scheiße, scheiße, denke ich.
Da sehe ich vor mir einen Starbucks. Sehr gut. Einen Kaffee. Ich habe den Laden gerade betreten, als mir jemand auf die Schulter tippt. „Theo!", die Stimme ist schrill und tut mir in den Ohren weh. Ich drehe mich um. Blonde Haare, grüne Augen, klimpernde Lieder und ich habe absolut keine Ahnung wer es ist. Muss eine von Kitseys Freundinnen sein, verdammt. Ich versuche zu lächeln, aber ich habe mein Gesicht nicht ganz unter Kontrolle. „Hey!", sage ich und hoffe, dass man mir meine Verwirrung nicht allzu sehr ansieht. „Na, das ist ja eine Überraschung dich hier zu sehen! Bist du auch auf dem Weg zur Party?", fragt sie. Party? Welche Party? Wollten Kitsey und ich nach dem Dinner zu einer Party gehen? Kitsey bestimmt. „Jahh...", sage ich zögerlich und Kitseys Freundin lächelnt begeistert und hackt sich bei mir ein. „Na dann nehmen ich und Leo dich gleich mit, ja?"
Ich nicke langsam und lasse mich von ihr durch die Menge manövrieren und zu ihrem Auto führen. Ich gebe einem Typen namens Leo einen Handshake, den ich irgendwoher kennen sollte, lächle und sage, dass Musik für mich klar geht. Ich schaue aus dem Fenster und muss kurz daran denken, wie meine Mutter zu meinem früheren Ich immer gesagt hatte: Nicht mit Fremden mitgehen, verstanden? Aber ehrlich gesagt war im Moment jeder Fremde vertrauensvoller als ich selbst.

wind, sand und sterne // boreo Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt