Mein letzter Wille

592 38 25
                                    

pt. 2

Ich wartete im Bad und hörte wie er langsam die Treppe hochging. Als er im Badezimmereingang stand, drehte ich mich zu ihm um. Seine Augen waren groß und unsicher und er wirkte fast ein wenig verschüchtert, wie er da so stand, seine linke Hand in den Nacken gelegt. Er wirkte fehl am Platz.
Und das brach mir das Herz.
Denn dieser Ort ist nichts ohne ihn, dieser Ort ist bloß kahle Mauern, rauer Sand, und erbarmungslose Sonne.
Mit ihm ist es zu Hause.
Und ich wollte, dass auch er sich wohl fühlte.
Ich wusste zwar nicht, was gerade passiert war, warum er mich einfach so geküsst hatte, aber es war kein Grund, dass er sich jetzt so schlecht fühlte.
Ich beschloss später weiter darüber nachzudenken und mich jetzt erstmal um ihn zu kümmern. Ich streckte meine Hand aus, packte ihn an der Schulter und schob ihn vor den Spiegel. Ich schaute ihm über die Schulter und von einer plötzlichen Welle aus Zuneigung gepackt, legte ich mein Kinn auf seine Schulter und schaute ihm im Spiegel entgegen.
Ich sah seinen gequälten Blick und dann wie er seine Augen ganz fest zukniff.
„Boris?", fragte ich, „Alles okay?"
„Schneid alles ab, Potter. Schneid all meine Haare ab, sodass man mich nicht mehr erkennt."
„Was?!", fragte ich bestürzt, „Warum?"
„Ich kann meinen Anblick nicht mehr ertragen.", sagte er kühl.
„Aber Boris...", protestierte ich, doch er unterbrach mich:
„Tu's einfach!", Pause. Dann leiser: „Bitte."
Er hatte die Augen noch immer zugekniffen und ich sah, dass sein Kiefer angespannt war. Ich wusste nicht was ich tun sollte. Ich verstand nicht was mit ihm los war.
Als ich nichts tat, sondern nur verdattert vor ihm stand, öffnete er irgendwann wieder die Augen. Offenbar hatte er die Geduld verloren:
„Mann, Potter!", schrie er. „Schau dir das doch mal an!" Bei jedem Wort zog er verachtlich an einer seiner schwarzen Locken: „Hässlich, Hässlich, Hässlich, Hässlich!"
Sprachlos stand ich neben ihm. Er schrie seinem eigenen Spiegelbild Beleidigungen zu, bis er sich irgendwann zu mir umdrehte und mit brüchiger Stimme sagte: „Ich muss immer alles kaputt gemacht."
Er stand wie ein Häufchen Elend vor mir. Niemals vorher hatte mir jemand so leid getan, niemals vorher hatte ich so den Schmerz mit jemandem gespürt, wie mit ihm.
Niemals zu vor hatte mir jemand so viel bedeutet.
„Hey, Boris. Beruhige dich.", sagte ich. Dann konnte ich nicht mehr normal sprechen, ich flüssterte bloß noch: „Du hast nichts kaputt gemacht. Nichts kann das jemals kaputt machen." Und um es ihm leichter zu machen (und insgeheim auch mir) schob ich hinter her: „Außerdem bist du nicht ganz nüchtern."
Ich brachte ihn dazu sich hinzusetzten und wärend er sich mit zitternder Hand eine Zigarette anzündete, nahm ich eine Schere in die Hand und mussterte ihn prüfend.
Unsicher schaute er zu mir auf, doch ich sah sein Gesicht nur verschwommen durch den Rauch, den er gerade ausgeatmet hatte: „Was ist, Potter? Worauf wartest du? Fang an."
Ich stieß ein nervöses Lachen aus, doch als er mich darauf hin nur noch verunsicherter anschaute, unterbrach ich mich selbst.
„Ich glaube, jetzt habe ich Angst etwas kaputt zu machen.", lächelte ich.
„Hä?", fragte er verständnislos. Doch dann begriff er: „Meinst du mich?", fragte er erstaunt. „Bei mir gibt es nichts, dass kaputt gemacht werden könnte. Is eh alles schon hässlich."
Und da reichte es mir. Ich nahm sein Gesicht in meine Hände und schaute ihn an: „Doch, Boris, doch. Du bist schön. Du bist wunderschön!", meine Stimme wurde lauter und fast ein wenig hysterisch, jetzt wo ich Worte sprach, von denen ich dachte sie würden für immer verborgen bleiben.
Er schaute mich sprachlos an und ich spürte wie ich rot wurde, doch ich konnte jetzt nicht aufhören zu reden, jetzt wo ich endlich einmal begonnen hatte: „Du bist so so schön. Jede einzelne Locke, wild und ungezwungen, ungebunden und frei."
Wie die Wellen des Meeres
„Und ich liebe deine Augen, dunkel und mystisch, voller Güte und Schalk."
Und Angst
„Wie du gehst, wie du dich bewegst, wie du redest. Immer auf der Kante zum Absurden, mutig und tapfer."
Und immer für mich da.
Er schaute mich noch immer an und seine Augen waren schöner als je zuvor. Sie ließen mich tief in ihn hinein schauen, unter die Oberfläche tauchen, und all das lag ganz klar vor uns da. All das Gebrochene, dass ich so gerne heilen wollte.
Eine einzige Träne lief seine Wange hinunter.
Meine Hände zitterten, doch ich hielt sein Gesicht noch immer fest.
„Das hat noch nie jemand zu mir gesagt.", sprach er tonlos. „Das ich schön bin."
„Oh bitte, Boris, ich dachte das wäre klar.", flüsterte ich verzweifelt zurück.
Eine zweite Träne.
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich Boris nie die Sachen genannt hatte, für die ich ihn bewunderte. Jeden Tag, der bisher vergangen war, hatte ich ihn schön gefunden, hatte ich über seine Witze gelacht, hatte ich mich wohler gefühlt, weil er da gewesen war. Aber nie hatte ich es ihm gesagt. Und erst jetzt spürte ich die Kraft, noch nie zuvor gesagter Worte, noch nie zuvor gehörter Worte. „Es tut mir leid, dass ich das Eindeutige erst jetzt ausspreche.", flüsterte ich.
Da ist noch mehr, was ich sagen muss, dachte ich. Da ist noch mehr, was in mir tief drin schon lange klar ist. Die drei Worte. Doch sie wollen einfach nicht hinaus.
Boris drückte mir die Schere in die Hand: „Schneid so viel ab, wie du willst.", flüsterte er.
Einzelne seiner Lockern, besonders verfilzte hingen ihm bis zu den Schultern herunter und ich schnitt sie alle so ab, sodass seine Harre wieder auf einer Höhe waren. Ich schnitt noch ein paar weitere Locken raus, die von der Kotze zu verklebt waren, um sie noch retten zu können. Doch ansonsten ließ ich seine Haare wie sie waren. „Wunderschön.", flüsterte ich und drehte eine seiner Locken um meinen Finger. Als ich zuletzt sein Kinn anhob, um zu schauen, ob mit seinen Haaren alles stimmte, blies er mir Rauch ins Gesicht und lachte ein leises Lachen, worauf ich verärgert die Augen zukniff. Doch es störte mich nicht: die Hauptsache war: Er lachte wieder!
Wir schnitten noch schnell Popper das Fell, sodass er ein wenig aussah, wie ein gerupftes Huhn und als wir damit fertig waren, beschlossen wir, noch einmal ins Bett zu gehen. Wir waren aufgrund des Kotze-Debakels viel zu früh aufgestanden für einen Samstag.

Und so gingen wir in unser Zimmer und zogen angeekelt das Bettzeug ab, an dem auch überall Kotze klebte. All das taten wir schweigend, denn jeder schien seine Gedanken ordnen zu müssen.
Ich ging in ein anderes Zimmer, um dort nach neuer Bettwäsche zu suchen, doch wir hatten nur noch einen neuen Matratzen, Kissen und Decken - Bezug.
Und so teilten wir uns die eine Matratze, lagen dicht beieinander, sodass man den warmen Körper des anderen spüren konnte, ihn aber aufgrund der Dunkelheit im Raum (wir hatten eine Stoffdecke vors Fenster gelegt) nicht ganz sehen konnte.
Ich lauschte Boris Atem, bis er plötzlich sagte: „Danke, Potter. Danke, dass du Gebrochenes heilen kannst."
Die Härchen in meinen Ohren stellten sich auf.
„Hab ich von dir gelernt.", flüsterte ich zurück.
Schweigen.
„Ich wollte dir noch was sagen. Heute früh...da meinte ich doch, du sollst dir weniger Sorgen machen. Und ich meinte doch, du sollst mehr Alkohol trinken um sie zu vergessen."
„Ja?", ich wusste nicht worauf er hinaus wollte.
„Ich will mich korrigieren: Wenn du dir das nächste Mal Sorgen machst, dann komm zu mir. Red mit dir. Ich werde dir helfen. Ich werde immer da sein."
Wenn ich es doch nur in Worte fassen könnte. Wenn ich es doch nur aussprechen könnte.
Ich würde dir all das sagen.
Ich lie-
„Danke, Boris.", raunte ich.
Ich drehte mich zu ihm um. Die Dunkelheit hatte ihn fast verschluckt, und ich konnte den Drang nicht unterdrücken, einen Arm über seine Seite zu legen, nur um zu spüren, um mich zu vergewissern, dass er immernoch da war. Dass er nicht weg gehen würde. Dass er bei mir bleiben würde.
Ich fühlte mich sicher, und die Dunkelheit sorgte dafür, dass ich das Gefühl hatte nichts was wir jetzt sagten oder taten, wäre für immer festgenagelt. Also sprach ich: „Als du heute gesagt hast, dein letzter Will sei, dass wir uns jetzt endlich die Haare schneiden, stimmte das natürlich nicht. Was ist wirklich dein letzter Wille, Boris?"
Er schaute mich an und wir lagen ganz nah an einander, Gesicht an Gesicht, Köpfe auf einem Kissen, Körper unter einer Decke.
„Mein letzter Wille?"
Und dann beugte er sich ein kleines Stück zu mir und ich zu ihm, und unsere Lippen trafen sich in der Mitte. Unerfahren, doch im Schutze des Dunkelheit unbekümmert. Ich nahm jede Berührung seines Körpers war, die Lippen, seine Hand an meiner Schulter, sein Fuß an meinem Fuß. Es war als würden sich alle gebrochenen Teile wieder neu zusammen setzen.
Als sich unsere Lippen wieder von einander lösten, blieben wir ganz still liegen, Stirn an Stirn, und schaute uns an.
„Du hast es nicht kaputt gemacht.", sagte ich. „Du hast es schöner gemacht."
Ich hörte ihn leise lachen.
Er zog mich an sich, und ich lag in seinem Arm und er hielt mich fest.
Doch kurz bevor ich einschlief flüsterte ich noch: „Ich glaube, wir sind nicht ganz nüchtern."
„Stimmt schon.", raunte er zurück.
Und ich konnte hören wie er lächelte:
„Aber - ganz betrunken sind wir auch nicht."

wind, sand und sterne // boreo Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt