2 - Am Traualtar

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Das Erste, was Hayden sah, als der Schwindel aus ihrem Körper wich, waren die kaffeebraunen Augen von Hale. Ausnahmsweise funkelte kein Spott in seiner dunklen Iris, sondern eine Mischung aus Verwirrung und Angst.

Hale konnte sich nicht mehr daran erinnern, was passiert war.

Sein Kopf war wie leergefegt. Fast schon schien es, als würden schwarze Nebelschwaden seine Erinnerungen umhüllen und hinter dicken Gitterstäben gefangen halten.

Hales Augen, die einen winzigen Punkt in der Ferne fixiert hatten, wanderten zu Hayden zurück. Innerlich hoffte er, dieselbe Angst in ihren Pupillen aufflackern zu sehen, doch er traf bloß auf einen emotionslosen Schleier.

Spürte Hayden etwa nicht das, was er selbst spürte? Dass etwas anders war?

Hale ließ seinen panikerfüllten Blick über Haydens Körper wandern.

Ihre blonden Locken fielen ihr in sanften Wellen über die Schultern. Weiße Perlen und rosa Kunststoffblumen verzierten ihr glänzendes Haar.

An ihrem Hals hing eine silberne Kette mit einem Diamantschlüssel als Anhänger.

Soweit Hale wusste, mochte Hayden überhaupt keinen Schmuck. Als kleiner Junge hatte er Hayden extra kitschige Armbänder und Halsketten aus einem Zwei-Dollar-Shop gekauft, um sie zu ärgern. Seitdem verzichtete Hayden bewusst auf alles, was glitzerte und glänzte.

Warum also baumelte auf einmal eine Kette um ihrem Hals?

Noch mehr unbeantwortete Fragen schossen Hale durch den Kopf, als seine Augen an dem weißen Kleid hängenblieben, welches Hayden trug.

Der Stoff, der mit einem feinen Blumenmuster aus Spitze überzogen war, schmiegte sich perfekt an Haydens Oberkörper und betonte somit ihre weiblichen Rundungen. Erst ab der Taille fiel das Kleid in einem weiten Rock zu Boden.

Hale gab es nicht gerne zu, aber Hayden sah wunderschön aus – fast, wie eine Prinzessin.

Auch Hayden musste mit sich selbst kämpfen, um ihre Augen von Hale abzuwenden. In dem weißen Anzug, der seinen athletischen Körper gekonnt in Szene setzte, sah Hale noch attraktiver aus als er ohnehin schon war.

Hayden wollte sich definitiv nicht über Hales Erscheinungsbild beschweren, aber dennoch wunderte es sie, warum der Junge von nebenan einen Anzug trug. Seit sie bei der Kommunion eine Nacktschnecke in Hales Jackett versteckt hatte, wehrte sich dieser vehement dagegen, jemals wieder einen Anzug anzuziehen.

Ein flaues Gefühl, das eine eisige Gänsehaut auf Haydens Körper hinterließ, breitete sich in ihrer Magengrube aus.

Zwar konnte sich Hayden nicht mehr daran erinnern, was in den vergangenen Stunden passiert war, allerdings spürte sie, dass sich etwas verändert hatte. Der angsterfüllte Blick von Hale, der immer noch auf ihr ruhte, bestärkte Hayden in ihrer Vermutung.

Langsam, weil die Furcht auch nach ihr die Klauen ausstreckte, löste Hayden ihre Augen von Hale. Stattdessen drehte sie ihren Kopf zur Seite, um ihre Umgebung genauer betrachten zu können.

Hayden und Hale befanden sich auf einer moosgrünen Wiese, die von bunten Blumen geschmückt wurde. Ringsherum ragten hohe Tannen, die sanft im Wind tanzten, bis in die Wolken hinauf.

Hinter der kleinen Empore, auf der die beiden Teenager standen, plätscherte ein Fluss mit kristallblauem Wasser und weißen Seerosen. Schmetterlinge und Libellen surrten durch die Luft und hinterließen einen süßen Geruch von Lavendelblüten.

Dieser Ort war magisch. Das konnten sowohl Hayden als auch Hale spüren.

Dennoch stellten sich beide dieselbe Frage: Was hatten sie hier zu suchen?

In einer Zeit nach dir und mirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt