1 - Der Spiegel

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Einen Monat zuvor

Wenn es eine Sache in Haydens Leben gab, die sie nicht mochte, dann war es der Junge von nebenan.

Zwar sah Hale Dexter unverschämt gut aus – das musste selbst eine Hayden Reed zugeben – doch sein Charakter zerstörte dieses perfekte äußere Erscheinungsbild innerhalb von nur wenigen Sekunden.

Seit Hale Hayden im Kindergarten unter einer gigantischen Ladung Sand begraben hatte und sie deshalb beinahe erstickt wäre, hegte sie einen riesigen Groll gegen den Nachbarsjungen mit dem viel zu großen Ego.

Dieser Hass war in all den Jahren nicht abgeklungen, viel eher hatte er sich noch verstärkt.

Umso schlimmer war es also für Hayden, dass sie Hale bereits an einem Samstagmorgen um halb sieben sehen musste.

Auf sein dämliches Grinsen und seine kaffeebraunen Augen, die ihr provokant entgegenfunkelten, hätte sie liebend gern verzichtet – nicht nur an jenem Samstagmorgen, sondern am liebsten für den Rest ihres Lebens.

Nur blöd, dass ihr das Schicksal immer wieder ein Messer in den Rücken rammte.

„Na Prinzessin, gut geschlafen?" Hale konnte sich ein freches Zwinkern nicht verkneifen, als er seinen Blick über Haydens Körper wandern ließ.

In dem gelben Pikachu Onesie und den knallpinken Kuschelsocken glich sie in Hales Augen einem Clown. Auch der unordentliche Dutt auf Haydens Kopf, der bei jeder noch so kleinen Bewegung ihrerseits wackelte, gefiel Hale überhaupt nicht.

Er hatte noch nie verstanden, wie ein Mädchen so ungestylt herumlaufen konnte, doch bei Hayden Reed wunderte ihn gar nichts mehr.

Hale selbst trug an jenem Morgen eine verwaschene Jeans und ein blaues Holzfällerhemd. Seine rabenschwarzen Haare hatte er sich extra mit Gel zurechtgelegt, um möglichst attraktiv und gepflegt auszusehen.

Nicht aber etwa für Hayden hatte er sich so sehr in Schale geworfen, sondern für ihre große Schwester Sharleen.

Auch wenn Hale das niemals zugeben würde, stellte er sich abends oft im Bett vor, wie es wohl wäre, die bildhübsche Sharleen Reed als Freundin zu haben. Bestimmt könnte sie ihn zum glücklichsten Jungen des ganzen Universums machen.

„Nerv mich nicht, Hale!", fauchte Hayden ihren Gegenüber nach einigen Sekunden verärgert an. Hales intensive Blicke, die immer wieder abschätzig über ihren Körper glitten, fachten ein Feuer des Zorns in ihrem Inneren an.

Wie sollte Hayden bloß den Vormittag in Hales Gegenwart überleben?

Noch immer war es ihr ein Dorn im Auge, dass sich Hale freiwillig dazu bereit erklärt hatte, ihrer Familie beim Ausmisten des Dachbodens zu helfen. Kein normaler Mensch wäre dafür an einem Samstagmorgen um sechs Uhr aufgestanden.

Sicherlich verfolgte Hale schon wieder den nächsten Plan, um Hayden irgendwelche Felsbrocken in den Weg zu legen.

„Warum bist du denn so schlecht gelaunt, Prinzessin? Bist du etwa mit dem falschen Fuß aufgestanden?"

Wie jedes Mal, wenn Hale und Hayden aufeinandertrafen, konnte es sich Hale nicht nehmen lassen, die Blondine zu provozieren. Zu sehen, wie sich ihre Wangen dunkelrotfärbten und sie beinahe wie eine Bombe zu explodieren drohte, bescherte Hale ein Gefühl der Genugtuung.

Seit er ein kleiner Junge war und Hayden ihn mit Absicht in eine Matschpfütze geschubst hatte, liebte er es, das Mädchen von nebenan zu ärgern.

Daran hatte sich auch heute, fast sechzehn Jahre später, nichts geändert.

„Nein, du Trottel", sprang Hayden auf Hales Provokation an. „Ich bin schlecht gelaunt, weil ich deinen Anblick ertragen muss."

Zum Glück nahm Hayden in diesem Moment polternde Schritte auf der Treppe wahr, sodass sie Hale allein im Flur zurückließ.

In einer Zeit nach dir und mirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt