6 - Die Wahrheit

196 41 62
                                    

Zum ersten Mal in ihrem Leben war Hayden erleichtert, in die kaffeebraunen Augen von Hale zu schauen. Sie würde es nicht zugeben, aber Hayden hatte sich furchtbar große Sorgen um Hale gemacht.

In ihrer schlimmsten Vorstellung, die sie selbst im Schlaf gequält hatte, lag Hale leblos und blutüberströmt auf einem Waldweg – durchbohrt von einem goldenen Pfeil.

Dass die Wachen des Königshauses Hale beschützten und ihn niemals töten würden, wusste Hayden nicht. Zwar hätte sich Hayden das denken können – immerhin wurde Hale von allen als Prinz bezeichnet – doch ihre Horrorszenarien hatten ihr den Verstand benebelt.

„Na, Prinzessin?" Hale grinste sein typisches Zahnpastalächeln, welches Hayden schon des Öfteren an den Rand der Verzweiflung getrieben hatte. „Hast du mich vermisst?"

Am liebsten hätte Hayden mit einem selbstbewussten „Nein!" geantwortet, doch sie wusste, dass das Zittern in ihrer Stimme ihre Lüge entlarven würde.

Das war auch der einzige Grund, weshalb Hayden von ihrem Stuhl aufsprang und Hale in eine flüchtige Umarmung verwickelte.

Für den Bruchteil einer Sekunde genoss Hayden den vertrauten Pfefferminzgeruch, den Hale verströmte. In seiner Gegenwart fühlte sich Hayden sicher und geborgen.

Sobald sich Hayden jedoch wieder bewusst machte, dass sie gerade ihren Erzfeind umarmte und seine Nähe zu allem Überfluss genoss, stieß Hayden Hale grob von sich.

„Bilde dir bloß nichts darauf ein", zischte sie mit hochroten Wangen.

Zum ersten Mal hatte Hayden einen Moment der Schwäche in Hales Anwesenheit gehabt. Hoffentlich würde so etwas nicht erneut passieren.

„Erklär mir mal lieber, wo wir hier gelandet sind. Sonst weißt du ja schließlich auch immer alles besser, Mister Neunmalklug", fügte Hayden augenverdrehend hinzu, um ihre Verlegenheit zu überspielen.

Hale musste grinsen.

Mal wieder hatte er es geschafft, Hayden aus der Reserve zu locken und ihr die Schamesröte in die Wangen zu treiben.

Wären es andere Umstände gewesen, unter denen sich Hayden und Hale begegnet wären, hätte sich Hale bestimmt noch ein paar Minuten über die viel zu großen Anziehsachen, die Hayden trug und die offenbar einem Jungen gehörten, lustig gemacht, doch die Zeit ließ es nicht zu.

Hale blieben höchstens noch zweieinhalb Stunden, bis er Hayden zum Schloss gebracht haben musste.

Zum Glück hatte Novalee Elrik überreden können, bei den Pferden zu warten, denn sonst hätten sie noch mehr wertvolle Zeit mit Diskussionen verschwendet.

„Glaub mir, Prinzessin, ich würde dir gerne eine richtige Antwort geben können, aber ich habe selbst keine Ahnung, wo wir sind", gestand Hale nach ein paar aufgeregten Herzschlägen leise. „Ich weiß nur, dass dein Leben in Gefahr ist und dass mich die Menschen für ihren Prinzen halten."

„Na super", grummelte Hayden unzufrieden. „Warum kann ich nicht einfach die Prinzessin sein?!"

„Weil du es hasst, Prinzessin genannt zu werden."

Während Hale über seine eigenen Worte lachen musste, verdrehte Hayden bloß genervt ihre Augen. Zwar hatte sie sich im ersten Moment darüber gefreut, dass Hale unversehrt war, doch je mehr unsinnige Wörter aus seinem Mund purzelten, umso mehr freundete sich Hayden mit dem Bild eines pfeildurchbohrten Hales an.

Warum war es eigentlich typisch, dass Hale mal wieder die Welt zu Füßen lag, während Hayden um ihr Leben zittern musste? Fair war das nicht!

Hayden spürte bereits einen spitzen Kommentar auf ihrer Zunge, den sie wie einen Pfeil auf Hale feuern wollte, allerdings betraten in diesem Moment zwei junge Männer und ein blondhaariges Mädchen mit leuchtenden Augen den Raum, weshalb Hayden ihre Worte notgedrungen wieder hinunterschlucken musste.

In einer Zeit nach dir und mirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt