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Romy

Anders als erwartet, waren die Trauergäste nach Sonnenuntergang nicht zur normalen Tagesordnung übergegangen. Noch immer schienen sie darauf zu warten, entweder einem Zusammenbruch oder einem Skandal beiwohnen zu können. Worauf auch immer sie in dieser Hinsicht hofften, Romy würde es ihnen nicht geben.

Es ging ihr gut, abgesehen von dem Gefühl permanent unter Beobachtung zu stehen. Immer wieder stand jemand unangekündigt auf ihrer Veranda und brachte Essen oder fragte, ob sie jemanden zum Reden brauchte. Wo waren all diese besorgten Menschen in den Wochen vor dem Unglück gewesen?

Als sie tatsächlich eine Schulter zum Ausheulen gebraucht hatte, war nur ihre treue Nachbarin zur Stelle gewesen. Doch selbst Violet kannte ihr größtes Geheimnis nicht. Das, das am meisten Gewicht auf ihre Schultern legte. Sie konnte es mit niemandem teilen. Noch nicht. Die trauernde Familie war nicht bereit dafür. Solange sie von ihnen belagert wurde, würde sie weiterhin die Tapfere spielen und hoffen, dass sie bald alle in Ruhe lassen würden.

Nach drei zermürbenden Wochen hatte Romy schließlich eine Abwechslung gesucht. Und gefunden. Doch eigentlich hatte sie viel mehr gefunden als eine bloße Abwechslung. Sie hatte eine Familie gefunden. Freunde. Eine Zuflucht. Und einen Schwarm. Asche auf ihr Haupt. Romy hatte letzte Woche ihren 29. Geburtstag gefeiert – vermutlich waren die Trauerbesuche auch deshalb nicht abgerissen. Doch so mädchenhaft es auch schien, jemand hatte sich in ihr Herz geschlichen.

Genau genommen hatte sie keine Zeit, vor sich hin zu träumen. Sie musste Vorbereitungen treffen. Die Ernte stand bald an. Sie würde die Erträge einlagern und die nicht haltbaren Lebensmittel verarbeiten müssen. Ihre Töchter brauchten Aufmerksamkeit, mehr als jemals zuvor. So kalt sie selbst den Tod ihres Mannes hatte hinnehmen können, für ihre Töchter war es doch ein schwerer Schlag gewesen, die Hoffnung auf eine freudige Wiedervereinigung mit ihrem Vater aufgeben zu müssen. Sie waren noch zu klein, um die Tragweite zu erfassen, aber niemals nie mehr hatte ihnen einen Einblick verschafft, den sie erst verarbeiten mussten. Bei dem Gedanken an ihre traurigen Mäuschen zog sich Romys Herz erneut zusammen.

Sie hatte zwar eigentlich keine Zeit gehabt, aber sie hatte sie sich selbst nehmen müssen, um zu heilen und um diese Bilder vor ihren Augen schneller verblassen zu lassen. Nun stand sie vor dem nächsten Problem. Sie sehnte sich umso mehr nach einem Leben, das es für sie niemals geben würde.

Sie glaubte ganz sicher nicht an übernatürliche Wesen, aber diese Brüder hatten etwas für sich. Zum ewigen Leben verdammt, Seite an Seite, und zum wiederholten Male verliebt in das gleiche Mädchen. Romy hatte es sich nicht nehmen lassen die Social Media Kanäle der beiden männlichen Hauptrollen zu stalken.

Es blieb ihr dennoch ein Rätsel, warum die Mehrheit den älteren Bruder bevorzugte. Er wirkte kalt und arrogant, sein Blick leuchtete unnatürlich. Vielleicht trug er Kontaktlinsen. Aber selbst mit weniger grellen Augen würde er in ihr nie das Gleiche auslösen, wie der jüngere Bruder. Dieser wirkte verletzlicher, menschlicher. Ihm nahm man die Sorge um das Wohlergehen des Mädchens ab. Und obwohl der ältere Bruder natürlich nur seine Rolle spielte, war sie von seiner Art abgestoßen. Das würde sie auch vor dem echten Menschen hinter der Rolle nie verstecken können.

„Mama!", schrie eine dünne Stimme.

„Ja, mein Schatz."

„Wo bist du?"

„Ich bin in der Küche, Grace."

Sie vernahm ein Schnaufen, dann hörte sie kleine Füße in ihre Richtung kommen.

Romy seufzte. Zeit, die Gedanken abzuschalten und sich wieder auf die Realität zu konzentrieren. Sie ließ das Handy in ihre Hosentasche gleiten. Dieser Kerl sah aber auch unnormal gut aus. Kein Wunder, dass man ihn zur Hauptrolle gemacht hatte. Er sah irgendwie süß aus, aber er konnte ebenso streng wirken.

Doch was sie am meisten anzog war sein Beschützerinstinkt und die Zärtlichkeit, wenn er der weiblichen Hauptrolle Aufmerksamkeit schenkte. Es ließ sie jedes Mal ein bisschen aufgewühlt zurück, wenn sie solch eine Szene sah. Sie sehnte sich nach starken Armen zum Anlehnen. Und als hätte sie das alles nicht schon genug gefesselt, wäre sie ihm spätestens nach dem Angucken der zahlreichen Interviews verfallen. Gott, er besaß nicht nur einen herrlichen Körper, sondern auch eine gute Portion Humor.

Sie benahm sich wie ein Stalker erster Sahne. Jedes Social Media Konto hatte sie durchkämmt auf der Suche nach einem Foto, das ihr bisher entgangen war; einem Hinweis, auf seine Persönlichkeit fernab der Öffentlichkeit; irgendetwas, das ihr Herz weiter antrieb.

Vielleicht sollte sie ihr ganzes Gespartes nehmen, die Mädchen ein Wochenende bei Violet lassen, nach Hollywood fliegen und ihm vor seinem Haus auflauern. Bei ihrem Glück würde er genau dieses Wochenende mit seiner bezaubernden Frau Inez in der Karibik verbringen. Oder sonst irgendwo in einem schicken Luxushotel mit Infinity-Pool auf dem Dach.

Dabei wollte sie ihn doch nur einmal persönlich sehen. In Wahrheit sah er vielleicht nicht halb so gut aus wie es im Fernsehen schien. Oder er stank. Vielleicht war er auch ein Griesgram und gönnte einer armen Studentin im Coffeeshop nicht einmal ein paar Cents Trinkgeld. Vermutlich wäre sie sofort von ihrer kindischen Verliebtheit geheilt.

„Violet ist da." Gracies Stimme riss sie endgültig aus ihren Tagträumen.

Cassie Lion - eine Novella •abgeschlossen•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt