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Hunter

Hunter folgte ihr. Natürlich tat er das. Der Schreck saß ihm zwar tief in den Knochen, doch seine Sorge war größer. Durch die geschlossene Tür vernahm er einen verzweifelten Schrei, der dem einer Wölfin ähnelte.

Er hämmerte an die Tür. "Romina!"

"Alles okay", drang ihre erstickte Stimme durch die Tür.

"Nichts ist okay. Mach die Tür auf."

"Lass mich allein."

Bestimmt nicht. Er musste wissen, was gerade passiert war. Er stieß die Tür auf und ließ den Anblick einen Moment auf sich wirken. Der Boden des Badezimmers war blutverschmiert. Ihre Klamotten lagen zusammen geknüllt auf dem Waschtisch. Die Glastür der Dusche stand offen.

Hunter betrat den kleinen Raum und warf einen Blick in die Dusche. Romy stand in ein Handtuch gewickelt darin, ihre Beine noch immer blutig. Sie starrte auf den Boden.

Hunter schloss die Badezimmertür hinter sich. Das war kein Anblick, den die Mädchen zu Gesicht kriegen mussten. Er wusste nicht, wie offen Romy mit ihnen sprach, aber das hier war sicherlich eine Nummer zu groß für Kleinkinder.

"Das ist nichts Regelmäßiges", forderte er sie sanft heraus.

"Woher willst du das wissen?", fragte sie leise.

"Ich schätze, das wäre für dich absehbar gewesen. Und du hättest dich vielleicht dafür geschämt. Aber in deinen Augen war keine Scham. Dort spiegelten sich Angst und Verzweiflung." Er nahm ihre Hand. "Was ist los, Romina?"

Sie schluchzte. Es tat ihm im Herzen weh sie so zu sehen. Er trat zu ihr in die Dusche und zog sie an sich. "Shhhh." Er ließ seine Hand durch ihr Haar gleiten und murmelte sanfte Worte.

Nachdem sie sich beruhigt hatte, stieß sie ihn behutsam ein kleines Stück von sich weg. "Du kannst mir nicht helfen."
Sie krümmte sich erneut und stützte sich mit einer Hand an der gefliesten Wand ab. Hunter wusste nicht, was er tun sollte.

"Soll ich einen Arzt rufen?"

"Nein, das ist nicht nötig."

Sie war also nicht bereit, ihm die Wahrheit zu sagen. Aber er hatte inzwischen einen Verdacht. Er würde sie im Auge behalten. Wenn sich ihr Zustand drastisch verschlimmerte, würde er auch gegen ihren Willen einen Notarzt rufen. Man musste kein Genie sein um eins und eins zusammen zu zählen. Es gab nur eine Handvoll einigermaßen nachvollziehbare Gründe, warum eine Frau mit derartigen Schmerzen von einer Blutung überrascht wurde.

Nachdem eine Menstruation als der wohl beste Grund offensichtlich ausfiel, tippte Hunter auf den Verlust einer Schwangerschaft. Er zwang sich, nicht im Detail darüber nachzudenken, wie weit sie war. Wessen Baby sie trug.  Warum sie ihm nichts gesagt hatte. All diese Fragen konnten sie später klären.

Um ihr jetzt eine Hilfe zu sein, musste er einen kühlen Kopf bewahren. Der Verlust einer Schwangerschaft war nicht nur ein körperlicher Prozess. So viel war ihm klar. Doch das Körperliche war es, worauf er sich als erstes konzentrieren würde.

"Vielleicht hilft warmes Wasser gegen den Schmerz", flüsterte er. Nicht umsonst fand ein Großteil der Geburten im Wasser statt.

Sie nickte benommen. "Ja, vielleicht."

"Warum probierst du es nicht aus?", schlug er sanft vor, während er seinen Blick von ihr löste. Der Schmerz in ihren Augen wollte ihn zerreißen. Er verließ die Dusche und schloss die Milchglastür. "Reich mir dein Handtuch."

Sie legte es über die Tür. Automatisch griff er danach.

"Lass gut sein, ich wasche das nachher."

Hunter lächelte. Nachher legst du dich in dein Bett und ruhst dich aus, dachte er bei sich. Das Wasser wurde aufgedreht und Wasserdampf stieg aus der Dusche empor. Hunter legte ein frisches Handtuch auf die Tür. Dann setzte er sich auf den Rand der Badewanne und sah zu, wie der Spiegel langsam beschlug.

Als ein leises hilfloses Stöhnen aus der Dusche hervor drang, rang Hunter um Fassung. Er wusste, dass es nichts gab, das er im Moment für sie tun konnte, um den Schmerz zu lindern. Übermannt von seiner Nutzlosigkeit griff er nach dem Handtuch und ihrer abgelegten Wäsche. Leise verließ er das Bad und ging in den Wirtschaftsraum um die Waschmaschine zu starten. Er trat auf die Terrasse und sah sich um.

Dann lief er zur Haustür und trat dort auf die Veranda. Er stieg die Stufen hinab und blickte zum See. Die Mädchen spielten auf dem Feld fangen und zwei Nachbarskinder rollten sich den abschüssigen Weg hinab. Ein älterer Junge stand bei ihnen und lachte laut. Hunter winkte dem Jungen zu und ging wieder ins Haus.

Er kehrte mit Eimer und Wischmop ausgestattet ins Bad zurück. Romy stand noch immer unter der Dusche. Schnell wischte er den Boden und stellte den Eimer zur Seite. Es war das Mindeste, was er tun konnte. Das Wasser wurde abgedreht.

"Hunter?" Sie klang unentschlossen. "Bist du noch da?"

"Ja."

"Kannst du mir ein kleines Händehandtuch reichen?", fragte sie mit noch leiserer Stimme als zuvor.

Er griff eins von der Ablage, faltete es auseinander und legte es auf die Duschtür. Als sie von der anderen Seite danach griff, hielt er es einen Moment fest.

"Sag mir, wie ich dir helfen kann."

Sie antwortete nicht. Hunter ließ das Handtuch los und setzte sich erneut auf den Rand der Badewanne. Mit gebanntem Blick in den noch dichter beschlagenen Spiegel wartete er darauf, dass sie die Duschtür öffnete.

Nach einer Weile sah er aus dem Augenwinkel, dass sie auch das große Handtuch in die Duschkabine zog und sich darin einzuwickeln schien. Sie öffnete die Milchglastür und trat aus der Dusche, das kleine Handtuch zerwühlt an ihre Brust gepresst.

Ihr Blick blieb auf den sauber glänzenden Boden geheftet.
"Das hättest du nicht tun müssen."

Er zuckte mit den Schultern.

"Danke", flüsterte sie.

"Keine Ursache." Er stand auf. "Ich denke, du solltest dich ausruhen. Kannst du laufen?"

Sie hob ihren Blick und lächelte ihn traurig an. "Es wird gehen."

"Falsche Antwort, Romy." Er ging langsam zu ihr herüber und hob sie vorsichtig in seine Arme, darauf bedacht, das kleine Handtuch nicht zwischen ihren Körpern zu zerdrücken.

Mit großen Schritten trug er sie über den Flur in ihr Schlafzimmer und ließ sie sanft auf das Bett gleiten. Dann zog er die Decke zurecht und ging zur Tür. "Ich sehe nach den Mädchen."

"Danke", flüsterte sie und schloss die Augen.

Cassie Lion - eine Novella •abgeschlossen•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt