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Romy

Als Romy Hunter am nächsten Morgen entdeckte, musste sie lächeln. Der arme Kerl. Er hatte sich wirklich bemüht, mit ihnen mitzuhalten, aber er hatte eindeutig auf verlorenem Posten gekämpft. Es war hinterhältig von ihr gewesen. Sie hätte ihn ja durchaus vorwarnen können, aber wie hätte sie das tun sollen, ohne dass es wie eine verdammte Prahlerei rüber kam?

Andererseits war es eben, wie es war. Die Abzeichen und Urkunden aus ihren Jahren als erfolgreiche Downhillerin in ihrer Heimat hingen, halb versteckt, in ihrem begehbaren Kleiderschrank an der Wand. Chris hatte dem ganzen nichts abgewinnen können.

Sein Geist war zu schwach um den sportlichen Erfolg einer Frau würdigen zu können, hatte Violet ihr einmal zugeflüstert als Romy aufgelöst nach einem Streit darüber, ob Kinderfahrräder eine notwendige Anschaffung sein, zu ihr geflüchtet war. Violet hatte sich als Fels in der Brandung herausgestellt.

Sie war ihre Bezugsperson geworden, ihre Vertraute in der Fremde. Wem sonst hätte sie ihre Gefühle offenbaren sollen, nachdem sie festgestellt hatte, dass Chris viel Schall und Rauch umgab und seine Persönlichkeit selbst hinter dem ganzen Ego nicht so richtig viel ausmachte. Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken. Sie hatte ihre Lektion gelernt.

Noch bevor Hunter sich schwerfällig vom Sofa erhoben hatte, war sie in die Küche gehuscht und hatte den Frühstückstisch gedeckt. Nun saßen sie - wieder einmal - alle zusammen wie eine richtige Familie. Hunter lächelte sie an, hörte den Mädchen aufmerksam zu und sie genossen seine Aufmerksamkeit mindestens genauso sehr wie sie selbst.

"Ich möchte noch ein Brötchen, Mom."

"Na klar. Ich hole es." Romy ging in die Küche, griff nach dem Brötchen und sah sich nach dem Messer um. Sie fand kein Brotmesser und nahm schließlich das lange Kochmesser aus dem Messerblock neben dem Herd. Damit ließ sich das Brötchen eher schlecht als Recht aufschneiden, aber man konnte es noch essen. Sie legte das Messer zurück.

"Mama, ich möchte auch noch eins", rief Tillie.

Romy entwich ein Seufzer, aber sie griff erneut nach dem Messer. Nachdem sie die Spitze des Messers in das Brotchen gestoßen hatte, versuchte sie, die Kante aufzuschneiden, doch sie rutschte ab. Sie setzte erneut an und drückte nun ein wenig stärker mit dem Messer gegen das Brötchen. Das Messer rutschte ab und sie stach sich in den Arm.

"Autsch", zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie sah auf ihren Arm. Das Blut quoll zwar zügig, aber nicht in beängstigenden Strömen hervor.

"Romy?" Hunters besorgte Stimme drang zu ihr herüber.

"Alles okay. War nur ein bisschen heiß", log sie schnell und sah sich nach dem Handtuch um. Es lag in der Ecke der Küchenzeile. Zum Glück hatte sie sich heute entschieden, den Esstisch im Wohnzimmer zu benutzen. Er bot einfach mehr Platz für vier Personen als der kleine quadratische Glastisch in der Küche.

"Ich bringe Mom den Teller. Dann muss sie die heißen Brötchen nicht tragen."

Romy lächelte und schnappte nach dem Handtuch, das sie um ihren Arm wickelte. Als Gracie die Küche betrat, sah Romy die Blutspuren auf der Arbeitsplatte und auf dem Boden. Hoffentlich würde ihre Tochter die Flecken übersehen. Sie schickte ein Stoßgebet in den Himmel. Die kleinen Schritte kamen näher. Romy wandte den Kopf. Dann blieb Gracie stehen und ihre Augen weiteten sich.

"Mommy? Warum ist da so viel Blut?"

"Alles in Ordnung, Grace", versuchte sie ihre Tochter zu beruhigen. "Ich habe mich nur-"

Romy hörte im Esszimmer einen leisen Fluch, dann kippte ein Stuhl zu Boden und schwere Schritte näherten sich. Romy verzog das Gesicht.

"Zeig her!", blaffte Hunter nur eine Sekunde später und zog an ihrem Arm.

Sie stöhnte auf und hob das Handtuch, das sich inzwischen rot gefärbt hatte.
Hunter sah die Stichwunde an ihrem Arm und wischte das heraustretende Blut beiseite. Dann drückte er das Handtuch fest auf die Wunde um die Blutung zu stillen.

"Grace, lauf bitte rüber und hol Violet." Als das Mädchen die Küche verlassen hatte, wandte er sich an Romy und sah ihr tief in die Augen. "Langsam frage ich mich, ob du das mit Absicht machst."

"Was?", quiekte sie. Sie konnte die Augen kaum von ihm abwenden. Wenn er wüsste, dass er jeden ihrer Träume erst so richtig träumenswert machte, würde er die Füße in die Hand nehmen und um sein Leben rennen.

Er zog sie an sich, ohne den Druck von der Wunde zu nehmen. Langsam beugte er sich zu ihr herunter und hielt den Blick auf ihre Lippen gerichtet. Einladende, weiche Lippen, wie er vermutete. Ihr Atem ging schneller und schließlich schloss sie ihre Augen. Sie konnte spüren, dass ihre Lippen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Und sie hatte das Gefühl, dass Hunter lächelte. Könnte schlimmer sein, dachte sie. Und nun, küss mich endlich.

"Bitte sag mir, dass du dich nicht verletzt hast, um zu sehen, ob ich meinem Blutdurst widerstehen kann", flüsterte er.

Sie riss ihre Augen auf und zuckte zurück. "Was?"

"Ich bin kein echter Vampir."

Als das Gesagte bei ihr sank, breitete sich ein Lächeln in ihrem Gesicht aus und sie war sicher, dass ihr Gesicht strahlte. Also eher dunkelrot anlief. Doch sie konnte nicht anders, als laut zu lachen. "Gut, dass du es sagst. Dann kann ich ja jetzt damit aufhören."

"Ja", sagte er noch immer lächelnd.

"Nur eins noch", sagte sie und griff mit ihrer freien Hand nach seinem Handgelenk. Sie zog es vor ihr Gesicht. "Gibst du mir etwas von deinem Blut, damit das hier schneller heilt?"

Sie deutete auf ihren Arm.

Hunter lachte laut. Er schien ihren Humor zu mögen. Was gut war, denn sie musste sich eingestehen, dass sie ihm immer mehr verfiel. Der gestrige Morgen hatte es gezeigt. Sie musste sich in Acht nehmen und ihr Herz schützen, denn er würde abreisen. Der Tag würde kommen. Und als hätte Hunter ihre Gedanken gelesen, fiel auch sein Lächeln in sich zusammen.

"Was ist los?", fragte sie leise.

Er hatte die Augenbrauen zusammen gezogen. Dass er sie so grimmig anstarrte, missfiel ihr. Doch dann hob sich sein Blick und sie hätte schwören können, dass in seinem Augen ein Feuer brannte.

"Du bist eine außergewöhnliche Frau, Romy, das weißt du doch hoffentlich?", raunte er.

Sie senkte den Blick. Es war nett, von jemandem wie ihm so ein Kompliment zu hören. Wer auch immer nach ihm kam, würde es verdammt schwer haben, sie zu beeindrucken. "Danke."

Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob damit langsam ihr Gesicht. Dann sah er ihr in die Augen und strich mit dem Daumen über ihre Unterlippe.

"Und so wunderschön", flüsterte er.

Dann senkte er seine Lippen auf ihre. Das berüchtigte Feuerwerk explodierte als sie sich berührten. Die Spitze seiner Zunge stieß sanft gegen ihre Lippen. Ohne zu zögern teilte sie ihre Lippen, aber sie wartete nicht darauf, von ihm erobert zu werden. Stattdessen wagte sie selbst den Vorstoß, und erforschte ihn. Sie saugte an ihm und spürte das Verlangen nach mehr durch ihren Körper ziehen.

Ein Hüsteln ließ sie auseinander fahren. Violet stand mit verschränkten Armen im Türrahmen. "Ich wüsste nicht, wie ich hierbei behilflich sein kann", sagte sie schmunzelnd und Romy spürte, wie ihre Wangen sich wärmten.

Cassie Lion - eine Novella •abgeschlossen•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt