1

257 10 22
                                    

Romy

Romy schlich sich in die Küche. Sie brauchte einen Moment für sich. Und ihre Füße. So schick diese Pumps auch waren – ihr starben fast die Zehen ab. Jedenfalls die des linken Fußes. Schnell streifte sie den Schuh ab und wackelte mit den Zehen. Der rechte Fuß schien entweder einen Zentimeter kürzer zu sein oder sie hatte die Nerven darin bereits vor Stunden getötet. Möglicherweise auf diesem unsäglich schlecht gepflasterten Weg, der zum-

„Du solltest versuchen, dieses elendig große Grundstück loszuwerden, jetzt wo du allein bist."

Die mahnende Stimme zog Romy zurück aus ihren Tagträumen. Sie sah sich um und traf den Blick der älteren Frau mit den auftoupierten Haaren. Beinahe anklagend sah sie sie an. Fehlte nur noch, dass sie den Zeigefinger hob und damit vor ihrer Nase herumwedelte. Schnell schob Romy ihren Fuß zurück in den Schuh. Sie hatte die Befürchtung, anderenfalls wegen ihres nackten Fußes getadelt zu werden.

„Warum sollte ich?", fragte Romy betont höflich um die Aufmerksamkeit in ihr Gesicht zu lenken. Sie hatte diverse Abhandlungen des gleichen Themas bereits mehrfach in den letzten zwei Wochen gehört.

Die Dame tätschelte sanft ihren Arm. „Mach dir nichts vor, Liebchen. Du wirst die Arbeit alleine nicht schaffen."

Bevor sie zu einer Antwort ansetzen konnte, wurde ihr Gespräch von einer nasalen Stimme unterbrochen. „Sie kann sich meiner Hilfe sicher sein, wann immer sie sie braucht, Carole."

Romy versuchte ein Stöhnen zu unterdrücken. Genau, was sie brauchte: noch ein Verwandter von Chris, der ihr sagte, was sie zu tun hatte. Um ihre aufgestaute Frustration nicht mit Leibeskräften heraus zu schreien, ballte Romy ihre Hände unauffällig zu Fäusten.

„Welch ein Unsinn, Dylan. Ihr beide habt nicht die Zeit, euch um das Feld zu kümmern. Du solltest es für einen guten Preis verkaufen können, Romina. Und dann kannst du das Haus neben uns kaufen. Die Morrisons wollen schon seit einiger Zeit umziehen. Ihr Haus ist in gutem Zustand. Gepflegt und sauber. Drei Schlafzimmer, zwei Bäder. Über den Kaufpreis könnt ihr euch sicherlich einigen. Wenn nicht, rede ich noch mal mit George. Das Wichtigste ist doch, dass sie jemanden finden, bei dem sie ihr Haus in guten Händen wissen und du ein Grundstück kaufst, das du auch in Ordnung halten kannst. Es sind etwa 400 qm und ganz ehrlich, Liebchen, das ist doch ausreichend für euch drei. Und du wärst in der Nähe", fuhr Carole immer weiter fort.

Romys Fingernägel bohrten sich gnadenlos in ihre Handflächen. Sie zwang sich zu einem höflichen Lächeln. Hoffentlich sah es nicht so verkrampft aus wie es sich anfühlte. „Ihr sind bereits in der Nähe. Die Fahrt dauert keine 10 Minuten", stieß sie schließlich zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor. Das Ganze war einfach zu viel für heute.

„Aber-"

„Das muss sie ja nicht heute entscheiden", unterbrach Dylan seine Tante. „Vielleicht lässt du Romy wenigstens heute Mal etwas Luft zum Durchatmen. Du bedrängst sie."

Die ältere Dame schnaubte wenig damenhaft. „Christopher hat sie in Bedrängnis gebracht, als er Großvaters gesamte Erbschaft verschleudert hat, um dieses Ungetüm von einem Grundstück zu kaufen. Fünfzehntausend Quadratmeter ist einfach zu viel, wenn man keine Landwirtschaft betreiben will. Ich habe ihm von Anfang an gesagt, dass das eine schlechte Idee ist."

Romy hob die Hand um Carole Einhalt zu gebieten, doch sie besann sich eines Besseren und massierte sich kurz die Schläfe. „Genau genommen war das eine seiner besten Ideen. Es ist mein Zuhause und ebenso das der Mädchen. Wir werden so bald nicht umziehen. Aber du bist wie immer jederzeit willkommen, Carole."

„Ich kann einfach nicht verstehen, warum du in dieser Sache so sturköpfige bist, Liebchen."

„Tante Carole, das ist jetzt nicht der beste Zeitpunkt-"

„Ich bevorzuge es, für mich selbst zu antworten, Dylan." Auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit ließ Romy den Blick durch den Raum schweifen. Sie sah keinen. Stattdessen würde sich versuchen müssen, sich die Gesprächspartner anders vom Hals zu halten. Dylan allen Voran. Seine Aufdringlichkeit hatte sich bis vor Kurzem in Grenzen gehalten. Eine Gänsehaut durchzog Romy bei der Vorstellung, in welche Richtung Dylans Absichten gingen. „Grandpa Stephen sieht ein bisschen verloren aus, Dylan. Geh bitte nachsehen, wie du helfen kannst."

Er machte ein betretenes Gesicht. „Es gibt keinen Grund unhöflich zu werden, Romy. Wir wollen alle nur dein Bestes." Beschwichtigend wollte er ihr den Arm auf die Schulter legen, doch sie wich ihm aus.

Allein die Vorstellung, dass Dylan sie berührte verursachte einen erneuten Schauer auf ihrem Rücken. Nein danke.„Du kennst mich, Dylan. Ich hab es nur satt, dass jedermann hier zu wissen glaubt, was das Beste für mich und die Mädchen ist. Ich werde es selbst herausfinden", sagte sie und war sich bewusst, dass es praktisch unmöglich war, dass Carole den Seitenhieb in ihre Richtung nicht aufgeschnappt hatte. Nicht, dass sie sich etwas daraus machen würde. Es entsprach nicht Caroles Gemüt, sich mit den Meinungen anderer zu befassen. „Lyons Lane ist mein amerikanisches Zuhause. War es schon immer, und wird es immer sein."

„Du bist zu emotional, Liebchen. Es ist nichts Falsches daran, diesen Klotz am Bein zu verkaufen und ein neues Heim zu finden. Denk in Ruhe darüber nach."

„Habe ich bereits." Sie trat von einem Fuß auf den anderen, um für etwas Entlastung zu sorgen. „Wie ich mehrfach sagte, werden wir dort bleiben und du bist jederzeit willkommen, um Grace und Tillie zu besuchen."

„Mach es dir doch nicht schwerer als es ist. Das kannst du unmöglich schaffen." Wie um ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen, sah sie aus dem Küchenfenster, bevor sie herumwirbelte und erhobenen Hauptes den Raum verließ.

Romy folgte Caroles Blick über die gekieste Auffahrt hinweg, das Feld hinunter zu dem kleinen See, der vom Laub der hohen Birken beschattet wurde. Das Wasser glitzerte unbeirrt, wann immer ein Sonnenstrahl auf die Oberfläche traf. Das kleine Ruderboot, das in der Mitte schwamm, würde sie bald an Land ziehen und aufarbeiten lassen müssen. Oder gleich ein Neues kaufen. Doch das waren die Probleme eines anderen Tages. Wenn sie zum See hinunter ging, vorsichtig um die Maulwurfshügel stapftend, um sich auf einer der klapprigen Bänke in die Sonne zu setzen, wurde ihr jedes Mal wieder bewusst, dass sie nie etwas Schöneres gesehen hatte. Egal, was für unangenehme Erinnerungen inzwischen ebenso mit diesem Grund und Boden verankert waren, für sie würden die positiven immer überwiegen. Nichts konnte ihr die guten Jahre nehmen. Den Frieden auf der Veranda, die waghalsigen Sprünge vom Trampolin in den Pool, die ersten Ausflüge mit dem Fourwheeler. Erinnerungen an Übernachtungen auf dem Trampolin, gemütliche Grillabende, heiße Sommertage, erstes selbst geerntetes Gemüse im Garten und fröhliche Tage der Mais-Ernte gaben ihrem Herz neuen Schwung.

Seufzend wandte sie den Blick ab, nahm ein Glas und füllte es mit lauwarmem Leitungswasser. „Ich sollte mich wieder unters Volk mischen", flüsterte sie sich selbst zu. Sie strich liebevoll über die Arbeitsplatte, stellte ihr Glas ab und atmete ein letztes Mal tief durch. Es galt nur den heutigen Tag zu überstehen.

Morgen wären wieder alle fort und sie konnte ihr Leben mit den Mädchen in Ruhe fortsetzen. Wenn sie ehrlich war, hatte sich mit dem heutigen Tag und den Ereignissen der gesamten letzten vierzehn Tage, die überhaupt erst zum heutigen Ereignis geführt hatten, nichts für sie geändert. Trotzdem oder gerade deswegen hasste sie es, in diese tränenden Augen ihrer Gäste schauen zu müssen. Jeder, der hier war, litt mehr als sie selbst. Man beobachtete sie mit Argusaugen. Alle warteten auf ihren Zusammenbruch.

Bis auf Chris' Tante Carole und Dylan. Ein leises Kichern entwich ihren Lippen. Die beiden waren fast noch abgeklärter als sie selbst. Was für eine verkorkste Familie. Schmunzelnd schüttelte sie den Kopf und schüttelte ein letztes Mal ihren schmerzenden linken Fuß, bevor sie ins Wohnzimmer herüberging. In letzter Sekunde zwang sie sich dazu, das Grinsen gegen einen neutralen Gesichtsausdruck auszutauschen.

Die Trauergäste würden es nicht zu schätzen wissen, nur wenige Stunden nach der Beisetzung eine lachende Witwe zu erblicken.

Cassie Lion - eine Novella •abgeschlossen•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt