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Hunter

"Mommy, Brot ist alle."

"Äpfel auch."

Die Stimmen der Kinder hallten aus der Küche durch den ganzen Flur. Hunter spürte einen Knoten in der Magengegend. Er hatte sehr wohl die gähnende Leere des Kühlschranks wahrgenommen.

Nun zu hören, dass Grundnahrungsmittel wie Brot und Obst knapp wurden, erfüllte ihn mit tiefer Demut. Sie waren bereits ihre letzten Reserven ausgerechnet mit ihm zu teilen. Doch hatte er überhaupt das Recht, unter diesen Umständen etwas von ihnen anzunehmen?

Er würde zu Romina gehen und ihr erklären, dass er zurück zu seinem Wagen gehen würde um...um was zu tun? Das wusste er auch noch nicht. Aber ihm würde etwas einfallen. Vielleicht würde er auf die Route 6 fahren und schauen wie weit er kam.

"Und Schoko Cornflakes." - "Und Milch." - "Und Marmelade." - "Und Mais."

Mais? Hunter verlangsamte seine Schritte und blickte zurück zur Küche. Hatte Tillie gerade Mais gesagt? Wer aß denn Mais zum Frühstück. Vielleicht meinte sie Reis, für - hmm - Milchreis vielleicht. Egal wie, sein Plan stand fest.

Er konnte dieser Familie nicht auf der Tasche liegen. Er drehte sich um und stieß beinahe gegen Romina, die soeben aus ihrem Schlafzimmer kam.

Ihr Blick huschte über sein Gesicht, dann gruben sich Falten in das ihre. "Ist alles in Ordnung?"

"Romina", flüsterte Hunter. "Ich sollte euch nicht länger zur Last fallen und lieber versuchen einen Weg in die Stadt zu finden."

"Was? Wie kommst du darauf?"

"Die Mädchen -"

"Also es ist natürlich deine Entscheidung, wenn du versuchen willst, einen Weg in die Stadt zu finden. Auf der Route 6 werden sicherlich einige Hindernisse liegen. Aber ich verstehe, dass du es hier nicht länger aushältst."

"Nein, stopp." Sie hatte ihn völlig missverstanden. "So ist das nicht. Aber ich will euch nichts wegessen, wenn..." Er zögerte. "Wenn die Vorräte knapp sind, meine ich."

Sie sah ihn mit großen Augen an. Dann brach ein warmes Lachen aus ihr heraus. Er war sich sicher, dass dieses Lachen einen erwachsenen Mann in die Knie zwingen konnte. "Hier ist nichts knapp. Wir reden von zwei Tagen und nicht zwei Jahren. In weniger als 48 Stunden wird alles wieder normal sein. Du kannst deine Reise fortsetzen oder heimfahren, oder was auch immer dein eigentlicher Plan war, bevor der Sturm kam. In jedem Fall werden wir bis dahin alle satt."

"Ich meine es Ernst, Romina. Wenn es nicht geht, sei bitte ehrlich zu mir. Ich möchte euch keine Last sein."

Sie zog zwei Mal an seinem Ärmel und schlich sich an ihm vorbei zur Haustür. "Los, zieh dich an."

"Was hast du vor?"

"Komm. Ich möchte dir etwas zeigen."

Zögernd folgte er ihr. "Ich bin angezogen."

Sie lachte erneut. "Ja, das ist ist mir bewusst. Aber dort, wo wir hingehen, brauchst du eine Jacke und deine Schuhe." Sie runzelte die Stirn. "Du hast keine vernünftige Jacke dabei, oder?"

Er wies achselzuckend auf den Schrank im Flur. "Die Lederjacke."

"Alles klar. Bleib hier. Ich gehe schnell alleine."

Schnell zog sie ihre dicke Jacke über, die Inez gekonnt als Oversize-Mantel in Szene gesetzt hätte. Kaum dass sie in robuste Stiefel, die denen ähnelte, die er kürzlich beim Durchblättern des Wildlife Magazins gesehen hatte, schob sie sich wieder an ihm vorbei.

"Kannst du kurz mit einem Ohr auf die Kinder achten?"

Die Kinder? Wo wollte sie hin, dass sie sich derart kleidete und ihm auftrug, die Kinder zu hüten? "Soweit ich mich erinnern kann, hieß es alle Bewohner der Tri-State-Area sollen nach Möglichkeit im Haus bleiben. Wo wollst du also hin, Romina?"

"Wenn wir hier nicht verhungern wollen, muss ich kurz in den Keller gehen."

Stumm sah er sie an.

"Was?", fragte sie herausfordernd.

"Ein Keller ist normalerweise direkt unter dem Haus."

"Hier ist eben alles ein wenig anders", gab sie schmunzelnd zu.

Doch Hunter wollte sich nicht länger an der Nase herum führen lassen. Wenn die Sturm-Lady sagte, dass es besser war, drinnen zu bleiben, würden sie drinnen bleiben, bis der Sturm vorüber war.

"Wo ist der Keller?", fragte er um Geduld bemüht.

"Gleich neben dem Haus. Es ist eigentlich kein Keller in dem Sinne, sondern ein ehemaliger Bunker."

"Du veräppelt mich doch."

"Hast du die kleine freistehende Hütte an der Stirnseite des Hauses gesehen, als du gekommen bist?"

Er dachte zurück an den gestrigen Tag. Als er auf das Haus zu spaziert war, hatte er der Umgebung mehr Beachtung geschenkt als den tatsächlichen Bauten. Und dann waren sie dem Hilfeschrei gefolgt und hatten die Mädchen vom Baum geholt. Doch selbst auf dem Weg zurück ins Haus war er zu übermannt von den Geschehnissen gewesen, um sich ausführlich mit seiner Umgebung zu beschäftigen.

Alles, was er seit gestern Abend von dem Grundstück mitbekommen hatte, war der Ausblick aus dem Küchenfenster, der zwar sie Einfahrt, das Feld und den See einschloss, das Häuschen jedoch nicht freigab. Und vom Spielzimmer aus hatte er lediglich das Feld hinter dem Haus sehen können.

"Das ist ein kleiner oberirdischer Raum, von dem aus eine Treppe hinunter in den alten Bunker führt."

"Wozu braucht man hier einen Bunker?"

"Niemand braucht hier einen Bunker. Aber er ist da und ich brauche einen Keller."

"Sag mir, was du brauchst und dann gehe ich. Ihr bleibt im Haus. Draußen tobt ein Sturm."

"Nichts für Ungut, aber du wärst tagelang mit der Suche beschäftigt. Pass lieber kurz auf die Kinder auf. Ich bin schneller wieder da als du denkst."

Er verschränkte die Arme vor der Brust. "Na hoffentlich."

"Worauf hast du Appetit?"

"Ich..." Er räusperte sich. "Ehrlich gesagt, ist es mir egal. Es spielt keine Rolle, was wir essen."

Mit leichtem Schaudern dachte er zurück an die letzten Drehtage. So gut ihm das Catering in den ersten Wochen seiner Schauspielkarriere vorgekommen war, inzwischen kamen ihm die immer gleichen Speisen zu den Ohren hinaus.

Er konnte sie nicht mehr sehen. Und seine Selbstverpflegung in den eigenen vier Wänden bestand zu seiner eigenen Schmach lediglich aus trockenem Toast zum Frühstück und einem gelegentlichen Fertiggericht am Abend. Nach langen Drehtagen hatte er weder die Energie selbst zu kochen, noch Essen zu gehen.

Selbst Essen bestellen erschien ihm an den meisten Tagen eine unüberwindbare Herausforderung zu sein und so zog er an solchen Tagen einfach eine Lasagne oder Pizza aus dem Tiefkühler.

Doch höchstwahrscheinlich würde Romina ihm weder Pizza noch Tiefkühllasagne auftischen und ihre Mahlzeiten würden, sollten es auch die gleichen Gerichte wie die des Caterings sein, dennoch einen anderen Geschmack haben. Es konnte also in jedem Fall nur eine Abwechslung für ihn bedeuten und darum war es ihm tatsächlich egal, was auf den Tisch kam.

Nicht zu vergessen, dass er hier ein unangekündigter Gast war. Er würde einen Teufel tun, irgendwelche Ansprüche zu stellen.

Sie zuckte mit den Schultern und verließ das Haus. Kaum trat sie von der Veranda herab umspielte der Sturm ihr Haar und zog daran. Sie streifte eine Mütze über, die dem Schauspiel ein abruptes Ende bot. Hunter sah ihr nach bis sie die Einfahrt Richtung Teich und somit auch sein Sichtfeld verlassen hatte.

Cassie Lion - eine Novella •abgeschlossen•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt