11 - Rüssel

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„Allet klar. Braucht ihr noch irgendwas? Ich würd' sonst jetzt nach Hause fahren. Bist ja in guten Händen." sprach Julian, der ein wenig abseits von uns an der Wand angelehnt stand.
„Nee, fahr ruhig. Wir kommen schon klar, oder?" Felix sah mich, durch seine noch immer rot unterlaufenen Augen, fragend an und ich nickte.
„Jut. War nett dich kennenzulernen." verabschiedete sich Julian mit einem Lächeln von mir. „Meld dich, wenn was ist." wandte er sich zu seinem Bruder und dieser nickte.
Als Julian sich im Flur seine Schuhe anzog, rief er noch ein kurzes „Rüssel!" in die Wohnung, welches Felix erwiderte, ehe die Wohnungstür in's Schloß fiel.
Fragend sah ich ihn an. „Rüssel?"
Er lachte. „Ist unser Wort für „Tschüss". Erklärte er.
„Wie seid ihr denn da drauf gekommen?" fragte ich belustigt.
„Also, ich weiß nicht, ob du das auch kennst. Aber es gibt ja manchmal so Wörter, die man bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt hat. Erst kriegt das Wort einen Spitznamen, dann kriegt der Spitzname n' Spitznamen und so weiter. Und irgendwann entwickelt sich das zu so einer Form von dem Wort, dass nichts mehr mit dem Wort an sich zutun hat. Verstehst du, wie ich das meine?" versuchte er zu erklären.
Ich zog meine Beine aufs Sofa, setzte mich im Schneidersitz zu ihm gewandt und schaute ihn gespannt an. „Ich glaube schon."
„Okay. Also es hat angefangen mit „Tschüss", ganz normal halt. Dann „Tschüssi", „Tschüssikowski", dann auch mal das klassische „Tschüsseldorf", so. Davon ist es dann nicht mehr weit bis „Rüsseldorf" und zack - Rüssel."
„Wow." lachte ich.
„Was denn?" fragte Felix amüsiert. „Kennst du das nicht?"
„Nein." antwortete ich. „Also, ich verstehe was du meinst, aber mir ist das noch nicht passiert."
„Krass, ich dachte, das würde jeder so machen." erwiderte er und lehnte sich in die Sofalehne zurück. „Ich frage Tommi die Tage mal, ob der das kennt." er schob sein Handy aus der Hosentasche und tippte darauf herum, dann legte er es neben sich auf die Lehne.

Eine kurze Stille füllte den Raum. Unwohlsein überkam mich. Ich hatte schon lange nicht mehr woanders übernachtet. Ich fühlte mich in meinen eigenen vier Wänden immer am sichersten. Vor allem hatte ich noch nie bei einem Fremden übernachtet. Das war Felix ja irgendwie noch. Ein Fremder. So lange kannten wir uns jetzt wirklich nicht. Ich hätte mich vielleicht doch lieber von Julian nach Hause fahren lassen sollen.
Allerdings...
ich könnte immer noch gehen. Zu Fuß. Oder mit der Bahn fahren. Felix braucht mich hier nicht. Er ist ein erwachsener Mann und blind ist er auch nicht geworden. Also, noch nicht. Ich meine, wer weiß, was der Dealer da alles in sein Pfefferspray gemischt hat.
Ich spürte, wie meine Hände feucht wurden. Nervös rieb ich sie aneinander und versuchte, nicht in einer Welle meiner eigenen Gedanken zu ertrinken.

„Ist alles okay?" unterbrach Felix meinen inneren Monolog.
Ich schaute zu ihm hoch. „Ja, alles bestens. Ich... war nur kurz in Gedanken."
Seine Augen musterten mich eindringlich. „Ist dir kalt? Du zitterst."
Mist. Lass mich doch jetzt bitte keine Panikattacke bekommen. Nicht hier. Nicht vor ihm.
Ich versuchte, kontrolliert zu atmen und meinen Körper zu entspannen.
„Ich mache dir einen Tee." sprach Felix, ohne eine Antwort abzuwarten und ging in die Küche.
Grandios, Katha. Du bist hier geblieben um dich um ihn zu kümmern, nicht andersrum.
„Ich hab' nur Pfefferminztee, magst du den?" rief er.
„Ja, danke." rief ich zurück.
Während der Wasserkocher langsam immer lauter wurde, lehnte er sich an die Küchenzeile und wandte sich zu mir.
„Geh mal an meinen Schrank im Schlafzimmer und such dir aus der rechten Tür was gemütliches raus. Jogginghose und n' Pulli oder sowas. Was dir gefällt. Wenn du schon wegen mir hier bleibst, sollst du dich wenigstens ein bisschen heimischer fühlen." bot er an.
„Den Flur durch, ganz hinten, linke Tür."
„Sicher?" fragte ich vorsichtig. Ich kam mir schon ein wenig komisch vor bei dem Gedanken, einfach in seinem Schrank zu wühlen. Andererseits könnte so ne Jogginghose auf jeden Fall zu meinem Wohl beitragen.
„Klar. Hab nix zu verstecken." lachte er.
Ich nickte und stand extra langsam auf. Meine Beine fühlten sich ein wenig wackelig an, stabilisierten sich aber nach ein paar Sekunden in der Senkrechte wieder. Ich lief den Flur entlang und öffnete die letzte Tür links. Es war ein wenig kälter in dem Zimmer als im Rest der Wohnung. Rechts an der Wand stand ein großes Boxspringbett mit zwei großen Kissen und einer riesigen Bettdecke darauf. Es sah so gemütlich aus, dass ich mich am liebsten sofort hinein gelegt hätte, aber damit würde ich wohl eindeutig die Gastfreundschaft von Felix überschreiten.
Gegenüber an der Wand stand ein großer Schrank mit zwei Spiegeltüren.

Vorsichtig öffnete ich die rechte Tür, so als könne sie jeden Moment aus ihrem Scharnier fallen.
Er hatte seine Klamotten augenscheinlich nach Kategorien sortiert. Jogginghosen, Pullover, T-Shirts, Sporthosen. Ich versuchte vorsichtig, ohne viel Unordnung zu machen, eine Jogginghose und einen Pullover heraus zu kramen, für die ich nicht meine Niere aufgeben müsste, wenn auf ihnen ein Fleck landen würde.
Endlich fand ich eine graue Jogginghose von Nike, die selbst ich mir noch hätte leisten können, und einen schwarzen Pullover. Schnell zog ich meine schwarze Jeanshose und mein dünnes Sweatshirt aus, legte beides fein säuberlich zusammen und auf den leeren Stuhl neben Felix' Kleiderschrank. Ich schlüpfte in die Jogginghose, griff nach dem Pullover und zog ihn mir über den Kopf.
„Krasses Tattoo."
Ich erschrak und drehte mich zur Tür in der Felix, mit einer weißen Tasse in der Hand, stand.
„Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich dachte, du wärst schon angezogen." entschuldigte er sich.
„Schon okay. Hat ein bisschen gedauert, etwas da drin zu finden, was keine 1000€ oder mehr kostet." entgegnete ich. „Und danke."
Er trat in's Schlafzimmer ein. „Das ist groß, oder?" Er deutete auf meine Hüfte.
„Ja. Es geht von meiner Hüfte aus an der Seite meines Oberschenkels entlang, runter bis zum Knie." erklärte ich ihm.
„Kann ich's mal sehen?" fragte er vorsichtig. „Also, nur wenn das cool für dich ist. Musst dich hier vor mir nicht ausziehen, wenn du dich damit unwohl fühlst." fügte er schnell hinzu.
Ich überlegte einen Moment. Was soll's. Mich hatten schon Männer viel nackter gesehen, die ich weniger lang kannte. „Eh, ja klar."
Ich zog die Jogginghose bis zu meinem Knie herunter und präsentierte mein Tattoo und damit auch verdammt viel nackte Haut. Ich hatte allerdings das Gefühl, dass sich Felix wirklich nur für das Tattoo interessierte. Jedenfalls hoffte ich das.
„Wow." er kam einen Schritt näher um sich das Motiv genauer anzuschauen. „Ist das ein Drache?"
„Ja. Das ist Fuchur, der Glücksdrache aus „die unendliche Geschichte" von Michael Ende. Kennst du das?" erklärte ich.
„Mhm. Sagt mir was, ja. Ich stehe ja nicht so auf Drachen, aber der ist irgendwie niedlich." fasziniert fuhr er mit seinen Augen die Linien des Drachen nach.
„Meine Eltern haben mir das Buch immer vorgelesen, deswegen hab' ich's mir stechen lassen." sprach ich.
„War teuer?" Felix trat wieder einen Schritt zurück und sah mich an. Schnell zog ich die Hose wieder über meine Beine.
„Ich hab' 4 Jahre lang dafür gespart, also ja." antwortete ich.
Er sah mich mit einem Blick an, den ich nicht ganz deuten konnte, dann reichte er mir die Tasse in seiner Hand. „Hier. Der sollte dich wärmen."
Dankbar lächelte ich ihn an. „Es geht aber auch schon wieder. Der Pulli ist schön warm."
Ein breites Grinsen legte sich auf sein Gesicht. „Sollte er auch. Hat 650€ gekostet." sprach er und ging raus in den Flur Richtung Wohnzimmer. Mit großen Augen folgte ich ihm. „Wie jetzt?! Ich habe extra einen Pullover raus gesucht, der kein großes, teures Logo aufgestickt hat."
Felix schmiss sich lachend auf's Sofa. „Dann hättest du ins Etikett schauen sollen. Der Pulli ist von Givenchy."
„Dann kann ich den nicht anlassen! Wenn da ein Fleck drauf kommt oder ich ihn aus Versehen kaputt mache dann-"
„Du lässt den jetzt an, Mensch." befahl er belustigt. „Wenn da was dran passiert, werden wir schon einen Weg finden, wie du mir das zurück zahlst."
„Wie?" fragte ich perplex.
„Na, dann ziehste dich halt noch n' paar Mal öfter für mich aus." zwinkerte er und lachte.
„Du Wichser." sprach ich und boxte ihm gegen die Schulter als ich mich neben ihn auf's Sofa setzte.

Despite it all (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt