43 - Perfekt

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„Und du hattest solche..." Felix schien nach dem passenden Wort zu suchen. „Aussetzer schon öfter?"
„Mhm." machte ich.
Nach meinem kleinen Zusammenbruch hatten wir uns zusammen auf's Sofa gesetzt. Meinen Kopf hatte ich in seinen Schoß gelegt und er strich mir fürsorglich über den Kopf.
„Früher war es richtig schlimm. So zwischen 14 und 20. Ich hatte zu der Zeit nen relativ großen Freundeskreis, der sich dann nach und nach auflöste. Genau deswegen. Mein Therapeut hatte mir damals unter anderem eine Borderline Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Weiß nicht, ob dir das was sagt." erklärte ich.
„Hab ich schon mal von gehört." erwiderte er. „Hat die Therapie denn nichts gebracht?"
„Nicht wirklich. Dr. Stender meinte damals, dass das ne grundlegende Störung der Persönlichkeit sei und deswegen wenig Chance auf Heilung besteht."
„Dr. Stender?" kicherte Felix. „Wat meinste wat der für ne schwere Kindheit hatte ey. Mit dem Namen hätte der in Neukölln sofort auf die Schnauze bekommen."
„Mit seiner Fresse auch, glaub mir." entgegnete ich und rollte mit den Augen bei dem Gedanken an ihn. Eierkopf, Glatze, Silberblick und Brillengläser dicker als Sicherheitsglas.
„Also der Typ meinte einfach „sorry, können wa' nix machen, müssen sie halt mit leben, schönen Tach noch." oder was?" fragte er entgeistert.

„So ungefähr, ja." stimmte ich zu. „Er hat sich dann eher auf die Depressionen und den ganzen anderen Mist eingeschossen. Hat aber auch nicht wirklich was gebracht. Was aber vielleicht auch daran lag, dass ich mich dem Ganzen nicht geöffnet habe. Du kannst einen 14-jährigen, rebellischen Teenager nicht dazu bringen, sich da alle zwei Wochen für ne Stunde hinzusetzen und Spiele zu spielen, die irgendeinen therapeutisch Zweck erfüllen sollen. Das nimmst du einfach nicht ernst."
„Ja, versteh ich. Mich hätteste da mit 14 auch nich' reingekriegt." sprach er nachdenklich.
„Und wie bist du dann jetzt darauf gekommen, dir einen Psychologen zu suchen?" fragte ich.
„Naja, ick hatte schon länger mit dem Gedanken gespielt, hatte aber auch nie wirklich Zeit dafür. Als dann Corona angefangen hat und ich plötzlich gefühlt arbeitslos war, dachte ich, dis wär' ne gute Zeit, es mal anzugehen."
„Und das hilft?" hakte ich nach.
„Erstaunlich gut sogar. Hätte ich selber nicht gedacht. Da kamen plötzlich noch viel mehr Baustellen auf, die ich so gar nicht auf'm Schirm hatte."

„Mhm." ich setzte mich auf und sah ihn an. Seine blauen Augen betrachteten mich eingehend. „Und du musst da keine blöden Spiele spielen?"
Er grinste und präsentierte seine perfekten Zahnreihen. „Nein. Ich sitz' da einfach und quatsche mit ihr. Manchmal hört sie mir einfach nur zu und manchmal gibt sie mir Lösungsansätze vor oder erklärt mir, wie ich bestimmte Dinge noch aus einem anderen Blickwinkel betrachten kann. So grob zusammen gefasst."
„Okay." nachdenklich knibbelte ich an der Nagelhaut meines Daumens. „Naja, vielleicht kann ich es doch mal probieren. Ich habe ja nichts zu verlieren."
„Im ersten Gespräch möchte sie dich eh erstmal nur kennenlernen und sich ein Bild von dir machen. Danach kannst du immer noch sagen, dass du keinen Bock hast." machte er klar. Wieder mal strich er mir meine Haarsträhne hinter's Ohr. Schmunzelnd sah ich zu ihm hoch.

„Warum machst du das immer?"
„Was?" fragte er.
„Das mit meinen Haaren." erklärte ich.
„Ach, das." er grinste. „Die verdecken dein schönes Gesicht."
„Aber dadurch kriegt man Segelohren." beschwerte ich mich und er lachte.
„Wer hat dir denn den Schwachsinn erzählt?"
„Hab ich mal gelesen." sprach ich und zuckte mit den Schultern. Er hob seine Augenbrauen und blickte mich oskeptisch an. „Wo das denn?"
„In der Bravo vor 12 Jahren." lachte ich.
„Wow." gab er wieder und stimmte mit ein.
Felix Handy auf dem Tisch blinkte plötzlich auf. Er griff danach und schaltete den Wecker stumm. „Eine Stunde noch bis Einlass. Ich muss noch den finalen Soundcheck machen." seufzte er und erhob sich vom Sofa. „Wie geht's dir jetzt?"
„Besser. Dir?" erwiderte ich und stellte mich ebenfalls auf.
„Absolut in Ordnung." grinste er. „Bisschen nervös."
„Brauchst du nicht zu sein." versuchte ich ihm gut zu zureden und schlang meine Arme um seinen Hals. „Du hast es bei den Try Outs gesehen, die Leute lieben das neue Programm."
„Ich liebe es auch." sprach er.
„Siehst du. Du liebst es, die Leute lieben es. Mach dir keinen Kopf. Du wirst das rocken, ich weiß das." Voller stolz sah ich ihn an. Sein Gesicht näherte sich meinem und einen kurzen Augenblick später berührten sich unsere Lippen.

Nach all der Angst, die ich heute verspürt hatte ihn zu verlieren, fühlte es sich so gut an, ihm wieder nah zu sein. Ich konnte mich so glücklich schätzen, diesen Mann an meiner Seite zu haben. Grade weil ich noch immer der Meinung war, dass er auf jeden Fall etwas besseres als mich verdient hatte. Jeden Tag sah ich, wie er von Frauen grade zu angehimmelt wurde. Ob bei seinen Shows, privat auf der Straße oder sogar auf Instagram. Es war schon fast peinlich wie sehr sich manche von ihnen ihm an den Hals warfen. Wenn er gewollt hätte, hätte er sie alle haben können, aber er wollte mich. Verstehen konnte ich das nicht, aber ich genoss es.

„Fühlst du dich gut genug, heute am Stand zu stehen?" fragte er, als er von mir abließ. „Ich weiß ja, die vielen Menschen machen dich ziemlich nervös."
Ich nickte. „Das kriege ich schon hin."
„Gut." grinste er, zog mir die Kapuze meines AYCE-Hoodies über den Kopf und ging einen Schritt zurück, um mich zu mustern. „Schöne Frau."
Grinsend schüttelte ich den Kopf.

Tatsächlich konnte ich die Geschehnisse der letzten Stunden und die Nachwirkungen der Panikattacke gut ausblenden und meinen Job professionell meistern. Nachdem der Stand sich geleert und ich hörte, dass die Show begonnen hatte, holte ich eine kalte Dose Redbull aus dem kleinen Kühlschrank hinter dem Tresen und schlich durch eine kleine Hintertür in's Innere der Arena. Vor mir erstreckten sich die vollbesetzten Sitzreihen und schallendes Gelächter füllte die Arena. Eine junge Frau zwei Reihen vor mir, die eben noch ein Shirt bei mir gekauft hatte, drehte sich zu mir um, grinste und winkte. Ich prostete ihr mit meiner Dose freundlich zu und warf einen Blick auf Felix, der auf der Bühne stand. Man spürte, wie sehr er sich freute, dass die Tour endlich los ging. Er war absolut on Fire.

„Ich hatte halt richtig Angst, dass ich das nicht nochmal bestehe, weil ich hab' bei der zweiten MPU ehrlich gesagt finanziell schon ein bisschen was gedribbelt." erzählte er und kicherte. „Ja also meine zweite MPU hab' ich bar bezahlt."
Bei jeder Pause von ihm lachte das Publikum kurz auf und auch er konnte sich typischerweise nur schwer zusammenreißen.
„Deswegen wusste ich nicht, ob das noch mal geht. War voll panisch. Dann kam der Bulle an, ich hab das Fenster runter gelassen und er guckt so in mein Auto und meinte so: bist du nicht Felix Lobrecht?" Siegessicher gestikulierte er herum. „Und da dacht' ick mir: jetzt wollen wa' doch mal sehen, wer hier ne Strafe zu entledigen hat." lachte er.
Seine Augen fuhren kurz durch die große Halle, dann sah er mich. Stolz lächelte ich ihn an und ich war mir sicher, dass sein darauffolgenden breites Grinsen an mich gerichtet war, bevor er mit seinem Bit fortfuhr.

Despite it all (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt