46 - Ablenkung

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„Boah, bin ich erleichtert." sprach Felix und lehnte seinen Körper entspannt in den Sitz. „Ich hatte echt Angst um dich."
„Mhm, ich auch." erwiderte ich, als ich nachdenklich den Häusern Kölns nach sah, an denen wir entlang fuhren. „Aber ist ja alles gut. Also kannst du dich jetzt auch wieder normal benehmen und mich nicht behandeln, als wäre ich aus Glas."
„Ist das ein Synonym dafür, dass er dich jetzt wieder ficken kann?" lachte Julian. Sein Bruder boxte ihm spielerisch gegen den Arm.

Ich war wirklich froh, dass es nichts lebensbedrohliches war, denn zum ersten Mal seit langer, langer Zeit wollte ich wirklich leben. Es wäre wirklich dunkler Humor des Schicksals gewesen, mich ausgerechnet jetzt aus dem Leben zu holen. Sterben würde ich also nicht. Allerdings hatte ich Felix nicht alles erzählt. Noch nicht. Irgendwann, in einer ruhigen Minute würde ich es ihm erzählen, aber nicht hier zwischen Tür und Angel und nicht vor Julian. Außerdem wollte ich mir selber erstmal die Möglichkeit geben, das zu verstehen. Zu verarbeiten.
Ich hatte nie groß darüber nachgedacht, ob ich irgendwann mal Kinder haben wollen würde. Bis ich Felix kennengelernt hatte, wäre meine Antwort vermutlich Nein gewesen und natürlich hätte ich nicht jetzt sofort eines mit ihm gewollt, aber vielleicht irgendwann mal. Die Möglichkeit zu haben, mich zu entscheiden, hatte ich immer als selbstverständlich angesehen. Jetzt hatte ich diese Möglichkeit nicht mehr. Die Ärztin hatte sich klar ausgedrückt.
Sie werden keine eigenen Kinder bekommen können.
Erst wusste ich nicht, was ich sagen sollte, aber eine Frage brannte mir sofort auf der Zunge. War ich Schuld daran? Hätte ich es verhindern können, wenn ich eher zu einem Arzt gegangen wäre?
Die Antwort war Nein. Es gab nichts, was ich hätte tun können und trotzdem fühlte ich mich schuldig.
Ich wusste nicht, wie Felix dazu stehen würde. Das einzige Mal, als wir über Kinder sprachen, meinte er nur: das lassen wir erstmal.
Erstmal. Das heißt, er hätte schon gerne Kinder und das würde ich ihm nicht bieten können.
Vielleicht käme er damit klar. Vielleicht aber auch nicht. Ich hatte keine Ahnung.

„Hey, hast du mir zu gehört?" riss mich seine Stimme aus meinen Gedanken.
„Mhm?" verwirrt sah ich ihn an.
Sein Kopf lugte neben seiner Kopflehne hervor und er grinste breit. „Ich habe dich gefragt, ob du in's Hotel fahren oder mit zu 1LIVE kommen möchtest."
„Achso. Ich komme gerne mit." antwortete ich und erwiderte sein Lächeln.
Ein bisschen Ablenkung würde mir sicher gut tun.
„Gut, dann fahren wir erst zum Savoy, da kann Julian schon mal für uns einchecken und wir beide fahren weiter zum Sender." erklärte er.

„Leude, herzlich Willkommen zu 99 Problems mit Felix Lobrecht — ich löse eure Probleme. Wenn ihr auch Probleme habt, bei denen ick euch irgendwie helfen kann, meldet euch über die 1LIVE Internetseite und wir finden ne' Lösung. Bin ick mir sicher. Jetzt erstmal zu unserem ersten Anrufer, mit wem sprech' ick denn?"
Felix saß in einem kleinen, bunt ausgeleuchteten Raum am Schreibtisch. Vor ihm ein großes Mikrofon und ein kleiner Block, auf dem er sich während des Telefonats immer wieder Notizen machte. Was für die YouTube Videos professionell aussehen sollte, von dem ich aber ganz genau wusste, dass es nur sinnfreie Kritzeleien waren und absolut nichts mit dem Problem des Anrufers zutun hatte.
Ich saß indes im Nebenraum und sah meinem Freund dabei zu, wie er, voller Motivation und Engagement, die Probleme der Hörer löste. Oder es zumindest versuchte.
Solche Probleme hätte ich gern.
Vielleicht sollte ich einfach heimlich bei 1LIVE anrufen und ihn mit verstellter Stimme fragen, wie ich meinem Freund, mit dem ich mein Leben verbringen möchte, schonend beibringe, dass ich keine Kinder kriegen kann. DAS ist ein Problem. Nicht, dass man die Hose seiner Schwester mit Wein versaut hat oder sich nicht entscheiden kann, welches Konzert man besucht, wenn diese auf den selben Tag fallen.

„So, wir können los." kam Felix freudestrahlend auf mich zu, nachdem er noch die Intros für den YouTube Kanal und den Podcast aufgenommen hatte.
Ich nickte und nahm meine Handtasche von der Stuhllehne.
„Hast du Lust, noch ein bisschen spazieren zu gehen? Ich muss mich mal bewegen ey. Hier um die Ecke ist ein Eiscafé. Da könnten wir uns ein Eis holen." sprach er.
„Ja klar, gerne." erwiderte ich.

Das Neumarkt-Viertel war überlaufen von Leuten. Das schöne Wetter hatte anscheinend ganz Köln aus ihren Wohnungen getrieben.
„Bei den ganzen Problemen mit denen die Leute dich bei 1LIVE so anrufen, wünscht du dir da manchmal eigentlich ein echtes Problem? Irgendwas deepes und nicht nur so First-World-Problems?" fragte ich ihn, als wir die Schildergasse entlang gingen.
„Nee, besser nicht ey." lachte er. „Dieses ganze „Ich löse eure Probleme" ist ja auch nur halb ernst gemeint. Ich bin kein Psychologe, Lifecoach oder sonst so ein Quatsch. Ich könnte vermutlich nichts, aber auch wirklich gar nichts zu richtigen Problemen beitragen."
„Okay, verstehe ich. Aber die Leute wissen das ja. Wäre bestimmt mal ganz interessant zu sehen, wie du versuchst, solche Probleme zu lösen. Ich denke, du wärst gut darin. Zumindest hättest du die richtigen Intensionen." erwiderte ich.
„Ja klar. Hatte doch mal so ne Situation, wo mich die Wolter Zwillinge verarscht haben. Das wäre so ein echtes Problem gewesen, wenn's nicht gespielt gewesen wäre. Aber da kam ich auch schon echt an meine Grenzen, weil ich mit dem Thema so gar keine Berührungspunkte hatte."
„Stimmt, ja." ich erinnerte mich. „Da hast du trotzdem super reagiert, finde ich."
Er lachte. „Hab mein Bestes gegeben."
Wir kamen an einer kleinen Eisdiele, mit bunten Schirmen vor der Tür, an.
„Hi, wir hätten gerne — " begrüßte Felix den Verkäufer und scannte die Auswahl.
„Stracciatella und Haselnuss." flüsterte ich zu Felix.
„Waffel oder Becher?" fragte er.
„Waffel."
„Okay, also wir hätten gerne einmal Stracciatella und Haselnuss in der Waffel und für mich bitte Zitrone und Mango, auch in der Waffel." bestellte er.
Dann kramte er in seinem Portmonee und legte einen 10€-Schein auf den Tresen. „Stimmt so."

Mit unserem Eis in der Hand liefen wir die Straße weiter, bis wir am Rhein ankamen. Dort setzten wir uns auf eine freie Bank und genossen die Sonne, die warm in unser Gesicht schien.
„Du bist so ruhig heute. Ist wirklich alles in Ordnung?" fragte er nach kurzer Zeit.
„Eigentlich schon." antwortete ich mit Bedacht und versuchte, seinen starren Blick nicht zu erwidern.
„Eigentlich?" hakte er nach. „Irgendwas bedrückt dich doch."
Ich seufzte laut auf. „Ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll." gab ich zu.
„Mir was sagen?" ich meinte in seiner Stimme eine leichte Angst zu hören. „Ist es wegen dem Arztbesuch? Doch was schlimmeres?"
„Nein. — Ja. Aber nicht so, wie du jetzt denkst. Wie gesagt, es ist nichts lebensgefährliches." entgegnete ich.
„Was dann?"
Ich spürte seinen erwartungsvollen Blick auf mir. Rausreden konnte ich mich jetzt eh nicht mehr, also was soll's.
„Ich..." ich atmete noch einmal kurz durch. „Ich kann keine Kinder bekommen."
Vorsichtig sah ich zu Felix, der mich weiter ansah. Ich konnte seinen Blick nicht deuten, was mir noch mehr Angst machte.
„Sag etwas." bat ich ihn.
„Das tut mir leid für dich." sprach er vorsichtig. „Du wolltest irgendwann mal Kinder haben, oder?"
Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, vielleicht. Ich hätte zumindest gerne die Wahl gehabt."
„Verstehe ich." sprach er, legte seinen Arm um mich und zog mich näher zu sich.
„Wie ist das für dich? Möchtest du irgendwann mal Kinder?" fragte ich, als ich meinen Kopf auf seiner Schulter ablegte. „Denn wenn ja, solltest du dir vielleicht überlegen, das mit uns zu beenden. Ich meine, ich kann dir das nicht — "
„Hör auf." unterbrach er mich mit bestimmenden Ton. „Ich hab' mir nie wirklich Gedanken darum gemacht. Ich dachte mir halt immer, wenn's passiert, dann passiert's. Wenn nicht, dann halt nicht. Ich brauche das nicht, um ein erfülltes Leben zu führen. Ich bin auch so absolut zufrieden. Wir beide — " er drückte mich einmal kurz. „Wir werden ein gutes, glückliches Leben haben. Auch ohne eigene Kinder."
„Also ist das kein Problem für dich?" fragte ich unsicher und er schüttelte den Kopf.
„Nein. Ich hab' auch keine biologische Uhr, die schon lauter tickt und mir sagt, dass ich mich jetzt langsam mal beeilen soll und wahrscheinlich wird das auch nicht mehr passieren. Ich meine, ich bin fast 34 und hab keinerlei Wunsch danach, dass sich mein Leben, so wie es jetzt ist, irgendwie ändert. Ich liebe meinen Job, ich liebe meine Unabhängigkeit und am aller meisten liebe ich dich. Nichts wird daran jemals etwas ändern."
Erleichtert atmete ich auf und beobachtete ihn, wie er an seinem Eis aß.
Er bemerkte mein leichtes Schmunzeln und blickte mich an. „Was ist?"
„Wie eine Schnappschildkröte." lachte ich und er grinste breit.
„Ja ja, ich weiß."

Despite it all (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt