|| 29 || Ein anderer Mensch

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Cassian Natale

Die Versammlung war ein Erfolg.

Leandro klopft mir auf die Schultern, während ein zufriedenes Lächeln sein Gesicht ziert. Sergio und Avyanna schauen sich die Leichen an, beide in Gedanken verloren. Insbesondere bei Jasons Leiche bleibt Sergio merkwürdig lange stehen, während Avyanna ihm kaum einen Blick schenkt.

Mayra und Dorian sind direkt nach Ende der Versammlung mit den Gästen nach draußen gegangen, um einen Überblick über die allgemeine Stimmung zu erhalten. Doch das, was ich bisher mitbekommen habe, scheint zu bestätigen, dass wir unser Ziel erreicht haben.
Avyanna und Leandro werden als Capo dei capi akzeptiert und respektiert.

Selbstverständlich sind viele nicht gerade positiv auf sie zu sprechen, jedoch ist dies nicht verwunderlich, nachdem wir mehrere wichtige und bekannte Mafiosi ohne Vorwarnung vor ihren Augen hingerichtet haben. Dennoch war dies nötig, um respektiert und womöglich gar gefürchtet zu werden.

Zudem haben alle gerade getöteten Mafiosi ihre Hinrichtung verdient – wenn nicht mehr.
Sich an Frauen- und Kinderhandel zu beteiligen ist nun wirklich unter aller Würde. Wie krank im Kopf muss man sein, um solch eine Schandtat zu begehen?

Unser nächstes Ziel ist es, zum Standort der Koordinaten zu fahren, die wir in Vincenzos Räumen gefunden haben. Wir können die Reise nicht länger vor uns hinschieben. Wenn man Jason Glauben schenken möchte, wurden die Koordinaten rein zufällig gefunden. Falls er uns angelogen hat, laufen wir in eine Falle, aber was für eine Wahl bleibt uns? So klein die Chance auch sein mag, dass wir dort Kinder und Frauen auffinden, müssen wir es versuchen.

Jedoch dauert die Fahrt vier Stunden, also mit Hin- und Rückfahrt insgesamt acht Stunden. Plus die Stunden, die wir vor Ort verbringen werden. Es würde ein ganzer Tagestrip werden und mit den Terminkalendern von Capo dei capis, Kapitänen und Soldaten lassen sich selten solche Tagestrips vereinbaren.

Derzeit erkunden mehrere Soldateneinheiten das Gebiet, halten nach Gefahren Ausschau und versuchen die Gesamtsituation zu überblicken. Erst vor wenigen Tagen haben wir die Mitteilung erhalten, dass aus der Ferne nichts außer eine gigantische Farm und außerordentlich viele Schuppen zu sehen seien. Tagsüber wurden keine Personen entdeckt, jedoch hat es in den Nächten stark geregnet und gestürmt, so dass man von der Ferne nichts hat erkennen können.

Heute soll ein weiterer Trupp mit den bisher dort stationierten Soldaten sich näher an das Gebiet herantasten, nach potenziellen Gefahren und Fluchtwegen Ausschau halten. Wenn alles nach Plan verläuft, werden wir schon morgen den Tagestrip unternehmen.

«Du solltest zu Sergio gehen», reißt mich Leandro aus meinen Gedanken.
Irritiert blinzele ich Leandro an, bis ich sehe, dass Sergio nun im Blutbad um Jasons Leiche kniet. Sein Blick liegt wie gebannt auf dem durchlöcherten Herz. Meine Stirn legt sich in Falten. Hat Sergio nicht selbst vorgeschlagen, Jason hinzurichten? Hat er Schuldgefühle? Schwer vorstellbar, so wütend wie er vorhin noch auf ihn war. Was bedrückt Sergio dann? Ich verstehe ihn nicht.

Ist das ein schlechtes Omen? Ein Zeichen, dass wir nicht auf einer Wellenlänge sind? Aber nein, ich interpretiere zu viel herein. Es sind stressige Zeiten und Sergio hat Probleme, mit dem gegenwärtigen Sorgen umzugehen. Ich muss ihm nur Zeit lassen und für ihn da sein, dann wird alles gut, nicht wahr?

Nur ist die Frage, wie ich für ihn da sein soll, wenn ich nicht einmal imstande bin, meine eigenen psychischen Wunden zu heilen.

«Ja», stimme ich Leandro zu. «Ich sollte zu ihm gehen.» Doch ich bewege mich nicht vom Fleck. Etwas hält mich zurück, und ich weiß nicht was.

Mafia Romance 2 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt