|| 9 || Hier und Jetzt

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Cassian Natale

Ich muss mein Verstand verloren haben. Aber nein. Vielmehr hat Sergio meinen Verstand geraubt.

Ich tue so, als würde ich mich am Gesicht an der Wange kratzen, nur um meinen Daumen über meine Lippen zu streichen. Lippen, die nur wenige Minuten zuvor die Sergios berührten.
Selbst als wir in sein Auto steigen, um zum Restaurant zu fahren, kribbeln meine Lippen noch immer und Schmetterlinge flattern in meinem Bauch. Meine Mundwinkel sind hochgezogen, zeigen ein zufriedenes Schmunzeln.

Mein Herz quillt vor Glücklichkeit über. Selbst mein Kopf ist  im Einklang mit meinem Herzen. Denn, trotz aller Gründe die gegen eine engere Bindung mit Sergio sprechen, kann nicht einmal der rationale Teil in mir leugnen, welche Wirkung er auf mich besitzt.

Jahrelang war mein Beruf mit meinem Privatleben verbunden und vermutlich wird das ein Stückweit immer so bleiben. Doch hier und jetzt habe ich frei. Hier und jetzt muss ich nicht arbeiten. Hier und jetzt kann ich genießen.

Mit Leandro war mir das selten vergönnt. Ich war jederzeit angespannt, analysierte Körpersprachen und Umgebung, war bereit für einen Angriff. Auch wenn ich meine Mutter im Altersheim besuchte, checke ich öfters mein Handy, warte auf eine Nachricht oder Anruf. Selbst wenn wir Basketball spielten, war ich stets auf der Hut. Nur wenn Leandros Finger über die Klaviertasten huschten, gönnte ich mir ein paar Minuten, in denen ich mich dem Klang der Musik hingab, meine Pflichten vergaß und im hier und jetzt lebte.

Mein Blick gleitet zu Sergio, dessen Augen gedankenverloren auf der Straße liegen. Mit seiner linken Hand lenkt er den marineblauen Aston Martin um eine enge Rechtskurve. Die goldenen Strahlen der Abendsonne strahlen auf seine bernsteinfarbene Haut. Am liebsten würde ich meinen Arm ausstrecken, seine geschwungenen Lippen berühren, seine markanten Gesichtszüge nachfahren und ihn überall küssen, wo die Sonne ihn kitzelt.

Seine herausstehenden Wangenknochen, sein kantiges Kinn und seine buschigen Augenbrauen verleiten einen dazu, zu denken, Sergio sei grob und hart. Dabei strahlt sein Inneres so warm und hell wie seine sonnengeküsste Haut.

Während der Notfallsitzung zeichneten sich Sorgenfältchen auf seinem Gesicht ab, aber die sind längst verschwunden, wurden mit einem Schmunzeln auf den Lippen ersetzt. Er ist dreiunddreißig, doch sieht keinen Tag älter aus als fünfundzwanzig. Ungefähr fünf Jahre trennen uns, jedoch könnte mir das kaum weniger egal sein. Wir sind beide erwachsene, reife Männer, die wissen, was sie wollen.
Und verdammt, ich will ihn.

Ich will ihn küssen, seine Lippen auf meinen spüren. Ich will ihn berühren, sKüsse auf seiner warmen Haut hinterlassen. Ich will ihn zum Lachen bringen, seinem Gelächter lauschen, als wäre es ein musikalisches Meisterwerk. Ich will ihn ausführen, ihn verwöhnen.
Ich will ihn und ich will ihn für immer.

Für immer.
Ein beängstigender und zugleich ein schöner Gedanke. Für immer ist eine Zeitspanne, die uns Menschen auf Erden nicht vergönnt ist, doch vielleicht leben unsere Seelen weiter. Vielleicht gibt es Seelen, die bis ans Ende ihres Lebens und darüber hinaus sich lieben. Vielleicht gibt es Seelen, die nie voneinander genug bekommen, aber zusammen sich genug sind und nichts brauchen, außer eine Ewigkeit zu zweit. Vielleicht gibt es solche Seelen und vielleicht werden auch unsere Seele in der Ewigkeit vereint sein.

Doch bis dahin ist es hoffentlich noch eine lange Zeit. Denn bevor unsere Seelen sich an einem Ort treffen, an dem die Zeit der Unendlichkeit gleicht, möchte ich das Leben mit ihm an meiner Seite genießen.

In unserem Beruf ist die Lebensgefahr stets präsent. Eine Gefahr im Dunkeln, die wie ein Schatten einem folgt. An manchen Momenten verblasst der Schatten, wird von der Sonne zurückgedrängt. An anderen Momenten steht die Sonne tief und die Schatten zeichnen sich lang und dunkel auf dem Boden ab, verfolgen einen und scheinen einen einzuholen.

Erst vor wenigen Wochen dachte ich, der Schatten hätte mich erwischt, der Tod mich mit sich gerissen. Seitdem schaue ich umso öfters nach hinten, betrachte den Schatten genau. Umso mehr genieße ich die Stunden, in denen der Schatten von der Helligkeit bekämpft wird.
Hier und jetzt mag die Abendsonne lange Schatten auf den Boden werfen, aber mein Schatten wird verblasst, von der Helligkeit in Sergios Augen, in seinem und meinen Herzen.

In Momenten wie diesen, realisiere ich, wie tiefgehend meine Gefühle für ihn sind. Es ist ein reines, pures Gefühl, so strahlend wie das Licht von einer Supernova. Stumm bete ich, dass unser Licht länger brennen wird, als das einer Sternenexplosion.

Sergios Blick trifft auf meinen. «Denkst du das Avyanna und Leandro wieder zusammenfinden werden?»
«Ich hoffe es», antworte ich. «Sie durchstanden so viel. Es wäre tragisch, wenn ihre Liebe durch die Machenschaften des Bösen verloren geht.»
Sergio schüttelt den Kopf. An einer roten Fußgängerampel bleibt er stehen, wendet sein Kopf zu mir und schaut mir tief in die Augen. «Wenn ihre Liebe wahr ist, wird sie nicht verloren gehen.»

Eine Gänsehaut stellt sich auf meinem Körper auf. Mein Blick schweift aus dem Fenster, beobachtet die Fußgänger die über die Straße eilen. «Manchmal reicht selbst die wahre Liebe nicht für ein Happy End aus.»
«Und bei uns?»
Mein Kopf dreht sich zu Sergio, der mich eingehend ansieht. «Was ist mit uns?»
«Bekommen wir unser Happy End?»

Sekunden vergehen, bis meine Lippen eine Antwort formen. «Ich weiß es nicht.» Schmerz blitzt in seinen Augen auf. Es ist derselbe Schmerz, der mein Herz bluten lässt. Mein Blick huscht auf meine Hände, dann zurück zu seinen Augen. «Aber wir würden es verdienen.»
«Ja.» Sergios Augen wandern zu meinen Lippen. «Ja, das würden wir.»

Die restliche Fahrt vergeht still, doch unsere Herzen sind laut. Unsere Herzen, sie schlagen schnell und laut. Unsere Herzen flüstern von Liebe und schreien nach unserem Happy End.

Doch bis das Happy End uns gehört, wartet ein langer Weg mit vielen Hindernissen, Abbiegungen und Hügeln auf uns. Auf den ersten Hügel fahren wir geradewegs zu. Denn, so perfekt auch alles scheint, war vor wenigen Tagen nichts perfekt. Wir mögen uns geküsst, unsere gegenseitige Liebe gezeigt haben, jedoch ist die Vergangenheit nicht vergessen. Die Narben sind noch frisch, müssen erst genäht werden.
Auf uns wartet ein Gespräch, dass uns durch Schmerz führen wird, uns voneinander wegzustoßen versucht.

Ich hoffe nur, der Schmerz wird keine Kluft zwischen uns schaffen. Ich hoffe, Sergio hat recht und wahre Liebe wird nie vergehen.

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Da dieses Kapitel relativ kurz und langweilig ist, werde ich eventuell am Wochenende noch eines hochladen.

Allerdings hielt ich dieses Zwischenkapitel für nötig. Besonders da die letzten Kapitel eher traurig waren, wollte ich nun wieder ein hoffnungsvolleres Kapitel posten. Außerdem habe ich von ein paar Lesern mitbekommen, dass sie sich die Beziehung von Sergio und Cassian noch nicht ganz vorstellen können, weshalb ich nochmal darauf (& auf ihr Alter) eingehen wollte.

Sergio hat zwar früher auf Avyanna aufgepasst, als sie noch klein war, allerdings ist Avyanna 8 Jahre jünger als Sergio. Sergio ist in der Mafia aufgewachsen, weshalb er schon sehr früh eine große Verantwortung zugesprochen bekam.
Es tut mir leid, falls es beim ersten Band so wirkte, als wäre Sergio ein alter Opi, aber jedenfalls ist er noch recht jung, selbst wenn er einer der ältesten in diesem Buch ist.

Mafia Romance 2 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt