Dem Ziel so nah

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„Pass auf dich auf, mein Mädchen." Natalia drückt ihren Großvater zum Abschied noch einmal kräftig. „Ich wäre gern noch ein oder zwei Tage länger geblieben, doch ich muss es wissen." Der alte Mann schenkt ihr ein Lächeln. „Ich weiß. Bei deinem nächsten Besuch, wirst du sicher mehr Zeit haben." Die Farmerin steigt auf ihren Wagen und winkt Johann ein letztes mal. Sie treibt ihre Pferde an, die sich in aller Ruhe vorwärts bewegen. Philly kennt den Weg nach Hause. Umso irritierter ist er, als seine Besitzerin ihn in eine andere Richtung lenkt. Protestierend wiehert der fuchsfarbene Wallach einmal lautstark. „Ich weiß, mein Junge. Wenn wir wieder Zuhause sind, bekommst du zur Belohnung eine Extraportion Hafer." Philly war schon immer faul gewesen. Anders als Lili, die nicht genug Abenteuer erleben kann. Molly hat ihre Vorderpfoten auf die Holzlehne gestellt und blickt sich neugierig um. Sie öffnet das Maul ein Stück, um die Luft zu prüfen. Vertraute Gerüche von Mäusen und Kaninchen durchziehen ihre Nase. Ihr Schwanz plustert sich zur doppelten Größe auf und vor Anspannung fängt sie an zu schnattern. Natalia streichelt ihr über den Kopf und krault sie hinter den Ohren. Diese sanfte Zärtlichkeit entspannt die blaugraue Kätzin wieder, woraufhin sie ablässt und sich zufrieden neben ihrem Frauchen zusammenrollt.

Bis Kusa ist es noch ein ganzes Stück, doch wenn sie Oberberg umfährt und den alten Trampelpfad in Richtung Confis nimmt, wird sie noch vor Sonnenuntergang dort sein. Die Abkürzung bedeutet zwar viel hin und her schaukeln, doch dafür spart sie sich einiges an Zeit. Immerhin muss sich Natalia noch um eine Unterkunft kümmern. Genau für solche ungeplanten Ausflüge, hat sie immer einen Notgroschen dabei. In diesem Fall, besteht der Notgroschen aus einer Goldmünze und zwanzig Silbermünzen. Das sollte zumindest für zwei Nächte, inklusive Verköstigung reichen. Vorausgesetzt, es handelt sich um ein einfaches Bauernhaus und kein überteuertes Luxusanwesen mit vergoldeten Toiletten. Sie wäre auch mit einem Stall als Nachtlager zufrieden. Immerhin herrscht noch immer Spätsommer, was auch die Nächte warm macht. Selbst wenn sie sich getäuscht hat und Estarossa dort nicht finden wird, hat sie dann zumindest einmal die Stadt gesehen. Natalia war noch nie in Kusa gewesen. Wenn sie genauer darüber nachdenkt, dann wird sie bei dem Gedanken so viele Menschen um sich zu haben, doch ein wenig nervös. Immerhin ist sie das ruhige Leben auf dem Land gewöhnt. Doch die Gewissheit nicht alleine zu sein, tröstet sie darüber hinweg. Bevor sich Natalia ernsthafte Sorgen über eine mögliche Überforderung machen kann, muss sie Kusa erst einmal erreichen. Voller Tatendrang, schickt sie ihre Zugpferde auf den schmalen Trampelpfad, um direkten Kurs auf die Stadt des Windes zu nehmen.

Lautlos, schleicht Estarossa durch seine Unterkunft und öffnet die Tür zu seinem Zimmer. Eine rote Blutspur läuft über seinen Hals und endet an seinem Schlüsselbein. Zu dieser frühen Stunde, schlafen noch alle Gäste. Nicht einmal die Rezeption ist besetzt. In seinem Bauch hatte so der Hunger genagt, dass er mitten in der Nacht losgezogen ist, um zu jagen. In seinem unaufhaltsamen Blutrausch, sind ihm eine unvorsichtige Wildsau und ein träger Beuteldachs zum Opfer gefallen. Überfressen geht er ins Badezimmer und schaut sein Gesicht im Spiegel an. Es ist blutverschmiert und sogar etwas Fell hängt noch an seinem Mundwinkel. Seine letzte Fressattacke ist schon lange her. Da hatte er ein ausgewachsenes Wildpferd verdrückt. Schweigend, fängt er an sich das Gesicht und den Oberkörper zu waschen. Estarossa wusste genau, warum er seinen teuren Mantel hier gelassen hat. Er will keine Blutflecken darauf haben. Nicht, dass es ihn stören würde, doch er will damit unnötiges Aufsehen und misstrauische Fragen vermeiden. Es fällt ihm schon schwer genug, sich wie ein Mensch zu verhalten. Nachdem er sich gewaschen hat, schlendert Estarossa in das Hauptzimmer zurück, legt sich auf den Boden und döst noch etwas vor sich hin. Er hat sich vorgenommen, heute einen Schneider aufzusuchen. Immerhin braucht er einmal Wechselkleidung.

Lange ist der Dämon nicht mehr liegen geblieben. Mit diesem schmerzhaft gefüllten Magen, lässt es sich nicht gut schlafen. Also verlässt er in aller Ruhe seine Unterkunft, als wäre absolut nichts passiert. Der Mann an der Rezeption nickt ihm einmal zu. Er wirkt noch ein wenig schläfrig und macht einen unmotivierten Eindruck. Kein Wunder, bei dieser vergammelten Bude. Es ist ungewöhnlich still, als Estarossa auf den Marktplatz kommt. Nur wenige Menschen kreuzen seinen Weg. Eine junge Mutter besorgt gerade frische Lebensmittel, während ihre kleine Tochter einem hübschen Schmetterling hinterherjagt. Das Kind ist von dem bunten Tier so abgelenkt, dass sie Estarossa gar nicht bemerkt und schnurstracks direkt gegen ihn rennt. Sie fällt auf ihren kleinen Hintern und schaut perplex zu dem großgewachsenen Dämon empor. Statt ängstlich loszuweinen, grinst sie ihn verlegen durch ein paar Zahnlücken an. „Tut mir Leid", sagte die Kleine und geht zu ihrer Mutter, nachdem diese sie gerufen hat. Estarossa legt seine Stirn in Falten und kräuselt eine silberne Augenbraue. Kinder sind neugierig und abenteuerlustig, während Erwachsene permanent das Unbekannte fürchten. Er schüttelt lediglich den Kopf und geht die Stube des Marktschneiders aufsuchen.

Die Schneidermeisterin kommt aus dem Hinterzimmer. „Willkommen! Kann ich..." sie verstummt auf der Stelle und starrt Estarossa an. Er legt ungeduldig den Kopf schief und stemmt eine Faust an die Hüfte. „Begrüßt du so alle deine Kunden?" Die Schneidermeisterin klopft sich zweimal mit beiden Händen gegen die Wangen. „Verzeihung...ich wollte wirklich nicht unhöflich sein. Ich habe bloß noch nie jemanden, mit einer solch beachtlichen Körpergröße gesehen." Estarossa zuckt mit den Schultern. „Scheint in meiner Familie zu liegen." Das war eine dreiste Lüge. Sein jüngerer und sein älterer Bruder sind beide zwei Köpfe kleiner als er. Verunsichert lächelt sie einmal verlegen und beginnt seine Maße zu nehmen. Sie muss auf einen Stuhl steigen, um die Breite der Schultern und die Länge seines Rückens zu messen. „Habt Ihr an etwas bestimmtes gedacht?" Neue Kleidung ist teuer und seine Münzen schwinden langsam dahin. Natürlich könnte er wieder eine Kutsche überfallen und auseinandernehmen. Doch, dass er diesen Mantel und die Hose gefunden hat, die ihm auch geradeso passen, war ein reiner Glückstreffer gewesen. Die Chance, so etwas noch einmal zu erleben, tendiert gegen null. „Nichts besonderes. Nur ein Hemd und eine Hose, die auch wirklich passen. Farblich würde ich Blau oder Rotbraun bevorzugen."

Der Abend ist hereingebrochen. Estarossa hat nach seinem Besuch bei der Schneidermeisterin erneut die Windmühle aufgesucht, um sich einen erneuten Überblick zu verschaffen. Er war den ganzen Tag auf erfolgloser Informationssuche gewesen. Immerhin hat man ihm nur das erzählt, was er bereits weiß. Der Schneiderin hat er gesagt, dass er in zwei Tagen abreisen wird. Bis dahin haben seine bestellten Kleider fertig zu sein. Was Informationsbeschaffung angeht, ist hier erst einmal Endstation. Sobald seine Bekleidung fertig ist, wird er diese Stadt verlassen und die nächste aufmischen. Um den Tag entspannt ausklingen zu lassen, sucht Estarossa den Koch vom Vortag auf, um dort in aller Ruhe einen Fleischteller zu essen, während die rot schimmernde Sonne am Horizont verschwindet. „Heute hat es bei der Windmühle einen schrecklichen Unfall gegeben, Fremder. Eine Frau und ihr Kind sind aus dem dritten Stock gestürzt und dabei ums Leben gekommen." Estarossa lauscht der Erzählung des Mannes. Ein Gefühl der Ekstase von absolut dominanter Befriedigung durchströmt seinen Körper. Er hat keine einzige Sekunde gezögert, als er die beiden über die Brüstung geschubst hat. Estarossa hat keinen Funken von Reue verspürt, als der hilflose Junge in die Tiefe gestürzt ist und dabei in Todesangst nach seiner Mutter geschrien hat. Ups, war alles, was er gesagt hatte, nachdem er den Aufprall gehört hat und sich am Boden eine dunkelrote Blutpfütze gebildet hatte.

„Wie schrecklich", sagte Estarossa voll gespielt falschem Kummer. Die Grausamkeit dieser seelenlosen Kreatur kennt wirklich keine Grenze. Würde man in dieser Stadt wissen, dass er ein Dämon ist, wäre schon eine absolute Massenpanik ausgebrochen. Natalia hätte ihn besser zum sterben im Wald liegen lassen sollen. Doch selbst wenn man die Geschichte der beiden kennen würde, Natalia trifft keine Schuld. Die gutherzige Farmerin hatte nur auf ihr Herz und ihr Gewissen gehört. Er ist das grausame und seelenlose Monster, nicht sie. Estarossa hat den Teller zur Hälfte leer gegessen, als seine Nase auf einmal zuckt. Ein süßlicher, blütenartiger Geruch fährt durch seine Nase, den er von irgendwoher kennt. „...Stimmt etwas nicht?" Der Dämon greift nach dem kleinen Fläschchen um seinen Hals, zieht den winzigen Korken heraus und schnuppert an der Haarsträhne. „...Das kann nicht sein...", versucht er sich einzureden. Der süßliche Geruch stimmt mit dem ihrer Haarsträhne überein.

Molly hebt reflexartig den Kopf und maunzt einmal aufgeregt. Wie ein geölter Blitz, springt sie vom Holzwagen und prescht davon. „Nein, komm zurück, Molly!" Wie ein Haken schlagendes Kaninchen, flitzt die Kätzin um die Ecke und ist ihrer Besitzerin davongerannt. Natalia treibt ihre Pferde an, um ihrer entlaufenen Katze zu folgen. Ähnlich wie Estarossa, hat auch Molly einen besonderen Geruch aufgenommen. Sie rennt zwischen einem Ehepaar hindurch, weicht einem Kind aus und springt mit einem mächtigen Satz dem Dämon von hinten auf die Schulter. Noch bevor er reagieren kann, hüpft sie weiter auf den Tresen, um ihm direkt einen Teil von seinem Essen zu stehlen. Estarossa starrt das blaugraue Fellknäuel an. Diese seltene Fellfarbe und diese hypnotischen, bernsteinfarbenen Augen. Unter Tausend anderen Katzen, würde er diese hier wiedererkennen. „Der Staubfänger von der naiven Bauernfrau!"


Mein Freund, der DämonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt