Kapitel 20

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"Wie geht es dir, Harry?", frage ich leise. Der Lockenkopf zuckt mit den Schultern und versucht, das Klappern seiner Zähne zu unterdrücken. "K-kalt...", bringt er hervor. Besorgt ziehe ich die dicke Bettdecke noch etwas höher. Harry liegt immernoch an meine Brust gekuschelt vor mir, er hat sich seit heute Nacht nicht wirklich bewegt, außer dass er immer wieder die Seite wechselt, auf der er liegt. "Soll ich dir noch einen Tee machen?", frage ich und tupfe den Schweiß von seiner Stirn. Harry schließt müde seine Augen und nickt sachte. "Gern..."

Vorsichtig lege ich ein Kissen hinter ihn und nehme dann die leere Tasse mit in die Küche. Während das frische Wasser auf dem Herd erwärmt wird, starre ich nachdenklich aus dem Fenster. Ich bin zugegeben komplett überfordert mit der Situation. Harrys Zustand verschlimmert sich beinahe stündlich. Gestern Morgen ging es ihm noch so gut und von einem Moment auf den anderen kann er nicht einmal allein stehen. Vor allem sein Fieber scheint immer mehr zu steigen. Aber hat er wirklich nur eine Grippe? Oder ist es doch schon der Vollmond?
Das Brodeln des Wassers vor mir lässt mich aus meinen Gedanken schrecken. Ich bereite den Tee weiter zu und mische zu den Kräutern extra noch Kamille hinzu, um gegen das Fieber zu helfen. Dann gehe ich zurück zu Harry. "Ich bin wieder da", flüstere ich und setze mich neben ihn. Er atmet abgehackt und hat die Augen zusammengekniffen. Vorsichtig hebe ich seinen Kopf etwas an und helfe ihm beim Trinken.
"Harry, ich-"

"B-bitte", unterbricht er mich stockend, "nicht H-harry... Lieber.. Hazza..."

Ich halte inne, als ich realisiere, dass er es tatsächlich wahrgenommen hat, dass ich ihm diesen Spitznamen verpasst habe. "Hazza also?" Er nickt und setzt ein gequältes Lächeln auf. "Hazza, ich muss dich irgendwie zurück zum Rudel bringen. Dir geht es zunehmend schlechter und ich kann nichts tun, als dir zuzuschauen. Liam könnte dir vielleicht helfen", schlage ich eindringlich vor, doch Harry schüttelt energisch mit dem Kopf. "N-nein! Er.. er würde mir nicht h-helfen... Ich sterbe in... vier Tagen, Louis." - "Eben, das ist es doch Wert! Was hast du davon, wenn du vier Tage lang hohes Fieber hast und nichts tun kannst oder wenn du stattdessen noch Zeit mit deiner Familie verbringen könntest? Ich würde alles dafür tun, bei meinen Eltern und meinen Geschwistern zu sein, verstehst du?"
Harry blickt mich fragend an. "Geschwister?", wiederholt er. Ich nicke langsam. "Fizzy, Lottie, Phoebe, Daisy, Doris und zuletzt mein kleiner Bruder Ernest."
"Sind sie..."

Ich presse meine Lippen fest zusammen und nicke verhalten. "Sie sind tot, ja. Und glaub mir, Harry, auch wenn du denkst, dass du mit Robin alles verloren hast... das stimmt nicht, hörst du? Anne und Gemma lieben dich über alles, sie würden es sich nie verzeihen, wenn sie dich im Stich gelassen hätten." Als ich wieder in Harrys Augen sehe, schimmern Tränen darin. Bestürzt lege ich meine Hand an seine Wange und streiche sanft darüber. "Nicht weinen, Hazza..." Er schnieft leise und umfasst meine Hand mit seiner. "Ich möchte sie nicht verlieren, Louis... Ich möchte doch einfach nur leben! Ich möchte die Liebe meines Lebens finden, ich möchte eine Familie gründen! All das wird mir verwehrt... aber warum?!" Ich schlucke schwer und löse meine Hand aus Harrys. "Das weiß ich nicht. Aber ich bin nicht Schuld daran, ich dachte, du hättest das endlich verstanden." Harry sackt verzweifelt in sich zusammen und nickt langsam. "Das h-habe ich... heute Abend, okay?"

Sofort weiß ich, worauf er hinaus will. "Okay. Liam wird dir bestimmt helfen können."

~*~

Im Endeffekt ist es jedoch schon kurz nach Mittag, als ich Harry mit Mühen zum Stehen bringe und dick in Jacken und Decken einwickle. Er ist kaum anwesend. In den letzten Stunden hat er nur selten ein Wort herausgebracht, die meiste Zeit lag er halb ohne Bewusstsein im Bett und hatte Fieberträume.
Auch jetzt stolpert er neben mir her, wenn seine Füße nicht gerade auf dem Boden schleifen. "K-karre", murmelt er. Unsicher sehe ich zwischen ihm und der Schubkarre, die neben der Tür steht, hin und her. "Ich soll dich wirklich damit transportieren?", frage ich. Eine Antwort erhalte ich jedoch nicht mehr. Kurzerhand kicke ich mit dem Fuß die Karre um, damit das Werkzeug herausfällt. Dann nehme ich eine von Harrys Decken und lege sie als Untergrund hinein. Sanft lasse ich Harry hineingleiten und ziehe ihn mühsam in eine einigermaßen bequeme Position. Nachdem ich noch eine neue Decke über ihn gelegt habe, hebe ich die Karre an und beginne zu schieben.

Secret white lies - L.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt