Kapitel 28

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"Er stellte meine Eltern vor die Wahl: Entweder würden sie mich an meinem sechzehnten Geburtstag freiwillig hergeben, oder er würde ihnen und meinen Geschwistern etwas antun.

Ich war vollkommen verzweifelt, als meine Mum mir davon erzählte. Sie sagte mir, sie wüsste nicht, was sie tun sollte. Doch... manchmal hat es seine Vorteile, ein Omega zu sein.. oder Nachteile, wie man es nimmt. Jedenfalls habe ich gespürt, dass sie sich schon längst entschieden hatte. Sie war bereit, mich diesem Mann mitzugeben.
Weißt du, ich denke ich hätte an ihrer Stelle nicht anders gehandelt. Lieber führt eines ihrer Kinder ein schlechtes Leben, als dass die sechs anderen sterben. Aber in diesem Moment verstand ich es nicht. Die Angst und die Verzweiflung in mir wurden immer größer. In meinem Kopf drehte es sich nur darum, dass meine Eltern bereit waren, mich aufzugeben. Denn ich wusste, dass mit Alec kein schönes Leben vor mir liegen könnte.

Und dann beging ich einen der größten Fehler. Am Morgen meines Geburtstag schlich ich mich aus dem Haus. Ich war nicht bereit dafür, freiwillig zu diesem Mann zu gehen... Ich habe dich angelogen, Harry... Meine Geschwister und Eltern sind nicht einfach so gestorben."

Harry, dem inzwischen auch schon Tränen in den Augen stehen, blickt bedrückt zu Boden. "Es war Alec, oder?", fragt er leise. - "Ja. Er hat sie als Rache dafür töten lassen, dass ich abgehauen bin und nicht dafür bereit war, mich an ihn binden zu lassen. Ich lief und lief. Ich weiß gar nicht, wie viele Meilen ich zurücklegte. Doch dumm wie man mit sechzehn Jahren ist, dachte ich nicht darüber nach, dass sie meine Spur verfolgen könnten. Und das taten sie. Gerade als ich eine Pause einlegte, stand auf einmal Alec mit seinem Rudel vor mir. Ich roch, dass sie bei meiner Familie waren. Und ich roch Blut. Doch von denen, die mir gegenüber standen, stammte es nicht.

Und ab diesem Zeitpunkt wusste ich, dass ich verloren hatte. Ohne ein weiteres Wort stand ich auf und folgte ihm zurück zu seinem Zuhause. Noch am selben Abend biss er mich in den Hals."

Meine Hand wandert zu dem frischen Mal, das Harry mir verpasst hat. Ich bin froh, dass er es direkt über das alte setzte, doch ich kann es immernoch spüren. "Du hast dich gewehrt, oder?" Ich blicke zu Harry, der betroffen auf meinen Hals sieht. Langsam streckt er seine Finger aus und streicht darüber. Sofort läuft mir ein Schauer über den Rücken, der jedoch nicht unangenehm ist. "Es tat so weh. Er bereitete meine Haut nicht auf den Biss vor... stattdessen hielt er mich einfach fest und vergrub seine Zähne darin... ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nie in meinem Leben solche Schmerzen verspürt. Aber das es durch mein Herumzappeln nur noch schlimmer wurde, war mir nicht klar. Also riss die Stelle, an der er den Biss setzte, weiter auf und entzündete sich, weil er sie nicht säuberte. Tagelang lag ich mit hohem Fieber in irgendeinem Zimmer, ohne dass mir jemand half. Sie schienen zu spüren, dass ich davon nicht sterben würde, also unternahmen sie nichts. Und ab diesem Zeitpunkt begannen die schrecklichsten zwei Jahre meines Lebens."

Eine ganze Weile ist es ruhig. Harry scheint nicht zu wissen, was er sagen soll, doch das ist okay. Ich habe ihm das nicht erzählt, um Mitleid zu erhalten, sondern damit ich vielleicht endlich damit abschließen kann. Irgendwann zumindest.

"Aber das war es noch nicht, oder? Also ich meine... in diesen zwei Jahren... da ist noch mehr passiert, richtig?"

Langsam sehe ich zu Harry auf.

"Nein, das war es noch nicht", entgegne ich seufzend, "aber.. den Rest würde ich dir gerne zu einem anderen Zeitpunkt erzählen." Sofort nickt er und mustert mich unsicher. Da ich jedoch weiß, worauf er hinaus will, lege ich kurzerhand seine Arme um mich. "Es tut mir so leid", flüstert er niedergeschlagen. - "Du kannst nichts dafür", versichere ich leise.

"Aber es tut mir trotzdem leid", beharrt er stur. Schmunzelnd streiche ich über sein Mal am Hals. "Es ist okay... Du hast nun die Möglichkeit, das Ganze besser zu machen als er. Und dass ich kaum Schmerzen während der Bindung hatte, ist schon einmal ein sehr guter Anfang." Harry nickt langsam und legt seine Lippen an meine Stirn. Ich schließe meine Augen und atme tief durch. Ein Stirnkuss ist solch eine liebevolle Geste. Zu lange habe ich keine mehr in der Art erhalten.

Secret white lies - L.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt