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Mit Tränen in den Augen und einem ungleichmäßigen Herzschlag saß ich Lottie gegenüber und hielt ihre Hände fest umschlossen in meinen. Lottie sah abgemagert aus, ihr Gesicht wirkte bleich und eingefallen. Sie trug kein Lächeln im Gesicht, es war, als sei sie versteinert.

Haz saß neben mir und legte eine Hand auf meinen Oberschenkel. „Was ist los?", fragte er und blickte zwischen meiner Schwester und mir her.

„Ich- also ähm... ich habe gelogen, Harry. Ich heiße nicht Ams. Ich heiße Lottie Tomlinson und komme ursprünglich aus Doncaster und nicht aus Manchester.", sagte sie. Ihre Hände waren schwitzig, da ich ihr ansehen konnte, wie nervös sie war, nach all den Jahren die Wahrheit auszusprechen.

„Aber... aber wieso hast du gelogen?", fragte er, unwissend, wie er reagieren sollte.

„Dein Vater hat mich-" Sie schluckte hart.

Ich übte kurz Druck aus, um ihr zu signalisieren, dass ich da war und mich um sie kümmern würde. Ich schenkte ihr ein beschwichtigendes Lächeln.

„Möchtest du mit Lou alleine reden?", fragte Haz unsicher und ich legte eine Hand auf seine.

Sie schüttelte schnell den Kopf, löste eine Hand, um sich eine Träne aus dem Gesicht zu wischen. „Nein, du bist wie ein Bruder für mich. Du hast mich in all den Jahren immer an Louis erinnert." Sie zog ihn in eine Umarmung und ich sah sie das erste Mal wahrhaftig lächeln. Ich war Haz so unendlich dankbar, dass er für meine Schwester da war, als ich es nicht sein konnte. Er liebte sie genauso sehr, wie ich es tat.

Ich schloss mich ihrer Umarmung an, nahm sie beide fest in meine Arme. So verharrten wir bestimmt fünf Minuten. Keiner wagte es, die anderen loszulassen, da es sich absolut richtig anfühlte, sich endlich in den Arm nehmen zu können.

Als wir uns dann schließlich lösten, blickte sie zu mir. „Was ist mit Mum? Und Daisy und Phoebe? Fizzy und den Zwillingen?"

Ich lächelte schwach. „Sie sind groß geworden, aber viel kann ich dir dazu nicht sagen.", gab ich wahrheitsgemäß zu und sah auf meine Oberschenkel.

Sie zog verwirrt ihre Augenbrauen zusammen. „Wieso?"

„Nach deinem Verschwinden bin ich nach London abgehauen und ich hatte jahrelang keinen Kontakt zu ihnen, da ich zu sehr damit beschäftigt war, mit mir selbst klarzukommen. Bis ich sie vor Monaten das erste Mal wiedergesehen habe, wegen deiner... Beerdigung.", sagte ich und musste schlucken. Wie sagte man einer Person, dass sie für tot erklärt worden war und nun lebendigen Leibes vor dir stand?

Mit großen Augen starrte sie mich an, Entsetzen zog sich über ihren gesamten Ausdruck. „Ich- wie kann das sein? Ich lebe. Mir fehlt es an nichts. Wer wurde vergraben? Und wieso?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, wer dort vergraben wurde. Die Leiche war zu verwest, um DNA feststellen zu können. Doch daneben lag deine lila-türkisene Decke mit dem kleinen Loch in der oberen rechten Ecke. Man ging daher davon aus, dass es sich bei der Leiche um dich handelte.", erklärte ich ihr. Mein Herz pochte bei dem Gedanken, dass eine Familie einen geliebten Menschen verloren hatte und sie nun unter der Erde lag, in dem Glauben, dass es Lottie war.

„Aber die Decke habe ich nie mitgenommen. Auch nicht als Harrys Vater mich..." Sie setzte eine Pause ein und ließ ihren Blick unsicher in der Gegend umherschweifen. „entführt hat. Ich habe sie an dem Abend gar nicht bei mir gehabt und auch nie wiedergesehen."

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Wenn sie sie nicht bei sich hatte, wie kam sie überhaupt von zu Hause weg? Diese Geschichte wurde immer kurioser. „Was ist damals eigentlich geschehen?"

Ich wollte sie keinesfalls überrumpeln, aber all die Jahre hatte ich in solch einer Ungewissheit gelebt und ich hielt all die Lügen nicht mehr aus. Ich wollte die Wahrheit wissen.

„An dem Abend als ich verschwunden bin, war ich zwar im Club feiern, aber ich bin schon früher als alle anderen gegangen, da wir uns verloren hatten und es mit nicht gut ging. Als ich dann auf dem Weg nach Hause war, hielt ein weißer Van neben mir. Ein Mann sprang raus, packte mich und zerrte mich in den Wagen. All die Erinnerungen danach waren weg. Irgendwann wachte ich in einer dunklen Zelle auf, die völlig veraltet und verdreckt war, die Luft war stickig und eng. Dann kam Harrys Vater und er hat mich in sein Striplokal geführt. Dort sollte ich mich dann begrabschen lassen und den Menschen eine Show bieten. Ich habe es gemacht, mehrere Jahre sogar, bis dann Harry kam und mich erlösen wollte. Ich bin abgehauen, aber weit kam ich nicht." Sie rieb sich über ihren Arm und schaute zu uns auf. „Harrys Vater hat mich erwischt und mich zu einem Stripclub in Doncaster gebracht, wo ich weiterarbeiten musste. Verstehst du, wie nah ich euch war? Ich hatte nur rauslaufen müssen, und schon wäre ich frei gewesen. Aber ich wurde hungern lassen und hatte ab einem gewissen keine Kraft mehr. Ich musste mit Männern und Frauen schlafen, war die Schlampe des Clubs und musste alles über mich ergehen lassen. Bis Harry eines Tages vor der Tür stand und mich befreite. Er hat alles für mich aufgegeben, sogar eure Beziehung, nur um mich zu befreien." Tränen kullerten ihre Wangen herunter. „Ich bin dir so dankbar, Harry. Ohne dich stünde ich nicht mehr hier."

Er lächelte sanft. „Du weißt, wie wichtig du mir bist. Für dich hätte ich mein eigenes Leben aufgegeben. Von Tag eins, als ich dich kennengelernt habe, wusste ich, dass du das Leben als Stripperin nicht verdient hast. Du bist so viel mehr wert, als in gezwungenen Händen zu arbeiten und gegen deinen Willen."

„Ohne dich hätte ich es nicht überlebt.", sagte sie voller Dankbarkeit.

Er winkte ab. „Keine große Sache"

Keine große Sache? Er hatte meine Schwester vor dem sicheren Tod bewahrt? Ich würde ihm auf ewig etwas schuldig sein.

„Du lebst", stellte ich fest und hoffte, dass es wirklich kein Traum war.

Sie nickte. „Ich habe dich so vermisst. Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen." Und damit schloss ich sie erneut in meine Arme.

Ich glaubte an Schicksal. Das Schicksal hatte Lots und Haz zusammengeführt und Haz und mich und somit hatte er mich zurück zu meiner Schwester geführt. Nichts geschah aus Zufall, es war unser Schicksal.


Gone For Love - Larry StylinsonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt