Wie jeden Vormittag schließe ich meine Praxis auf und schalte die Beleuchtung ein. Das Lämpchen des Anrufbeantworters blinkt wie jeden Montag und ich drücke auf den Knopf, um die Nachrichten abzurufen, während ich die Jalousien nach oben ziehe.
„Sie haben vier neue Nachrichten", tönt es aus der Maschine. „Nachricht eins: ‚Hallo Mr. Hammond, hier ist Kate McLean. Ich habe ein neues Rezept von meinem Orthopäden bekommen und wollte gern weitere sechs Termine mit Ihnen absprechen. Bitte rufen Sie mich doch zurück.'
Nachricht zwei: ‚Ähm ... hallo. Ich soll fünf Mal Physiotherapie wegen meinem Kiefer bekommen. Können Sie sowas? Ach so ... mein Name ist Mason Donovan.'
Nachricht drei: ‚Hey André, hier ist Doug. Mein Knie tut schon wieder weh. Kannst du da nochmal gucken?'
Nachricht vier: ‚Hallo, hier ist nochmal Mason Donovan. Vielleicht brauchen Sie auch meine Nummer."
Ich schmunzle, als die letzte Stimme verlegen eine Nummer murmelt und der Anrufbeantworter seine Ansage beendet.
Ich blättere in meinem Terminbuch und rufe zunächst Mrs. McLean an, um ihr ihre sechs Termine bei meiner Kollegin Val zu geben. Mrs. McLean ist bereits langjährige Kundin und da sie grundsätzlich ihr Leid über alles und jeden klagt, haben Val und ich uns abgesprochen, die Termine aufzuteilen, damit nicht einer von uns irgendwann wahnsinnig wird. Und Val ist bei diesem Rezept an der Reihe.
Anschließend rufe ich meinen Kumpel Doug an und zitiere ihn für morgen zu mir. Zum Schluss höre ich die letzte Nachricht von diesem neuen Patienten ab und notiere mir seine Nummer, um ihn anzurufen.
„Hallo?", beantwortet er den Anruf nach mehrmaligem Klingeln.
„Hi, hier ist André von Hammonds Physiotherapie", sage ich fröhlich. „Du hast um einen Termin gebeten. Was steht denn auf deinem Rezept?"
„Oh ... äh ... ich habe so eine Schwellung und meine Zahnärztin meint, das könnte an meinem Kiefergelenk liegen, darum soll ich Physiotherapie bekommen. Kennen Sie sich damit aus?", faselt er nervös.Ich mag seine Stimme und außerdem scheint er furchtbar aufgeregt zu sein, also beschließe ich, ihn ein wenig anzuflirten und antworte: „Ich kenne mich sowohl mit Schwellungen als auch mit Kiefergelenken aus."
Die Stimme am Ende schnappt hörbar nach Luft und stammelt: „Ähm ... O-Okay?"
„Wann möchtest du denn gern kommen ..." Schnell sehe ich auf meinen Block, auf dem ich mir seine Nummer und seinen Namen notiert habe. „Mason?"
„Wann wäre denn ein Termin frei?"
„Oh, für dich nehme ich mir gern Zeit. Kannst du heute Nachmittag?"
„Ich habe um fünf Feierabend", antwortet er.
„Dann sehe ich dich um halb sechs", sage ich nur und lege grinsend auf.Vermutlich ist er nicht halb so attraktiv wie er klingt – so ist es ja meistens – aber witzig war dieses Telefonat trotzdem.
•••
„Dann können Sie sich schon mal anziehen, Mrs. Turner", sage ich freundlich und verlasse den Behandlungsraum. Ich gehe ins Badezimmer, wasche, desinfiziere mir die Hände und höre, wie jemand im Empfangsbereich leise flucht.
Lächelnd gehe ich nach vorn und sehe das Bild, das mir persönlich immer eine besondere Freude ist. Ein neuer, spielfreudiger Patient, der sich an einem der unzähligen Logikpuzzles, die ich auf einem kleinen Tisch aufgereiht habe, versucht. Seien es Pyramiden aus Kugeln, untrennbare Ringe oder Holzpuzzle, die leicht auseinander, aber schier unmöglich wieder zusammengesetzt werden können – ich habe eine beachtliche Sammlung vorzuweisen.
Der neue Patient ist etwa 1,90m groß, hat chaotische schwarze Haare und lange Finger, die verzweifelt versuchen, die Kugelpyramide wieder zusammenzusetzen, bevor seine Neugierde entlarvt wird. Zu spät.
„Hi", begrüße ich ihn freundlich und gehe auf ihn zu. Erschrocken hebt er den Kopf, die einzelnen Teile des Puzzles noch immer in seinen Händen.
„Ich bin André", stelle ich mich vor und nehme die Teile ganz selbstverständlich aus seinen Händen.Verblüfft beobachtet er meine Finger, wie sie die Kugeln in Sekundenschnelle wieder zu einer Pyramide zusammensetzen und auf dem Tisch neben den anderen Puzzeln platzieren.
„Äh ... Mason Donovan", stottert er. „Ich wollte das nicht kaputtmachen."
Ich winke lächelnd ab. „So schnell gehen die nicht kaputt. Man kann sie leicht wieder zusammensetzen."Ich beuge mich vor und nehme ganz sanft sein Gesicht in meine Hände. Seine Wangen werden noch pinker als sie ohnehin schon sind und er starrt mich mit seinen großen blauen Augen an. Vorsichtig drehe ich seinen Kopf. „Rechts, hm?"
„J-Ja", stottert er und leckt sich nervös über die Lippen.Sein Gesicht ist wirklich schön und ich bin verblüfft, wie jemand in Wirklichkeit noch attraktiver sein kann als am Telefon angenommen.
„Dann wollen wir mal", erkläre ich betont fröhlich und lasse ihn wieder los. „Geh schon mal in Behandlungsraum drei, ich mache nur das Rezept fertig."Etwas verdattert schüttelt er seinen Kopf und geht in Richtung der Behandlungsräume. Ich nehme das Rezept, das er mir auf den Tresen gelegt hat und schaue auf seine Daten.
Er ist gerade einmal zwei Jahre jünger als ich.Genau in solchen Momenten wünsche ich mir, dass noch mehr Informationen auf so einem Rezept stünden. Familienstand oder sexuelle Orientierung zum Beispiel. Aber aller guten Dinge sind drei. Wenn er am Telefon schon toll klang und jetzt auch noch live so atemberaubend aussieht, ist er vielleicht auch Männern nicht ganz abgeneigt?
Noch während ich zu den Behandlungsräumen gehe, fällt mir dabei ein, dass ich dann den Spruch doch in „aller guten Dinge sind vier" ändern sollte, denn wenn er auch noch homo- oder zumindest bisexuell sein sollte, bin ich vielleicht sein Typ?
„Ist alles okay?", fragt mich mein neuer Patient, als ich kopfschüttelnd und lächelnd zu ihm komme. Er sitzt auf der Behandlungsliege und wo bei den meisten Patienten die Beine baumeln, berühren seine Füße noch immer entspannt den Boden.
„Ja." Ich deute lächelnd auf sein T-Shirt. „Ausziehen."
Verwirrt runzelt er die Stirn. „Aber ich habe doch was am Kiefer."
„Das Symptom zeigt sich im Kiefer, aber die Ursache liegt bestimmt woanders," erkläre ich und suche eine Handtuchrolle aus einem Regal. Ich lege die Rolle am Fußende der Liege ab und warte, bis er sein Shirt über seinen Kopf gezogen hat.Ich sehe jeden Tag halbnackte Menschen. Viele halbnackte Menschen. Manche Leute arbeiten mit Verpackungen und sehen diese gar nicht mehr, andere mit Geld und ich eben mit Körpern. Ich sehe die Körper meist gar nicht mehr.
Aber dieser hier ... wow. Den sehe ich sehr wohl.Ihm selbst scheint seine Erscheinung nicht bewusst zu sein, denn er sitzt unruhig auf der Liege und weiß nicht, wohin mit seinen Armen. Nervös versuchen sie, seinen entblößten Körper zu bedecken, aber wollen es auch nicht, weil er vermutlich weiß, wie albern das wäre.
Ich stelle mich hinter ihn, lege meine warmen Finger auf seine Schultern und streife langsam über seine Arme nach unten. Seine Hände drücke ich sanft auf die Liege und murmle: „Und jetzt entspannen wir uns erst einmal, Mason."
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Rückblende | ✓
RomanceZwei Menschen, die sich lieben und doch trennen. Wie kam es dazu? Wie geht es weiter? Finden sie doch wieder zueinander? Eine etwas andere Art, eine Liebesgeschichte zu erzählen... ------------ ❝ „Tu doch nicht so! Hattest du das etwa nicht schon...