2 Monate später

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„Guten Morgen", seufzt Val, als ich in die Praxis komme. Vor ihr auf dem Tresen steht ein Coffee to go Becher und daneben liegt ein Zettel. So wie jeden Morgen. Wortlos nehme ich den Becher, trage ihn ins kleine Bad, kippe den Inhalt in die Toilette und werfe den Becher in den Mülleimer.

„André", ermahnt mich meine Kollegin. „So kann es nicht weitergehen."
Ich sage nichts und wasche mir die Hände. Ich sage kaum noch etwas. Eigentlich tue ich so gut wie gar nichts mehr. Ich rede nicht, ich esse nicht und schlafen tue ich erst recht nicht. Das Laufen habe ich aufgegeben, weil ich jedes Mal daran erinnert wurde, wie Mason mir beim letzten Mal nachgelaufen ist. Auch Aidan kommt nicht mehr. Ich habe ihm gesagt, dass es hoffnungslos ist, auf mich zu warten und ich keine Gefühle für ihn habe oder haben werde.

Der Kaffee und die Zettel begannen am Montag nach meiner Sommerparty. Ich kam morgens zur Praxis und fand Val weinend vor.
„Was ist passiert?", fragte ich besorgt und sie lächelte zwischen ihren Tränen.
„Du hast Post", schniefte sie und schob mir den Kaffee und den Zettel über den Tresen. Schon von Weitem erkannte ich die Handschrift und mein Brustkorb zog sich eng zusammen.

„Ich will es nicht", knurrte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen.
„Aber André", sagte sie mit tränenerstickter Stimme. „Es ist wirklich–"
„Schmeiß es weg!", schrie ich sie an und rannte schon fast in unser kleines Badezimmer. Ich schloss die Tür hinter mir ab, kauerte mich auf den Boden, schlang meine Arme um meine Knie und zwang meine Tränen, hinter meinen Augen zu bleiben.
Es dauerte bestimmt zwanzig Minuten, bis ich wieder herauskam und Val noch immer leicht verheult die Termine für die Woche koordinierte.

Seitdem ist ein Monat vergangen und jeden Tag findet ein ähnliches Schauspiel statt. Val weint nicht mehr, aber sie sieht mich jeden Morgen hoffnungsvoll an und jeden Morgen entsorge ich den Kaffee, den sie von draußen mit reingebracht und für mich auf dem Tresen abgestellt hat.
„Termine?", frage ich und gehe nicht auf ihre Aussage ein. Sie blättert im Kalender und antwortet: „Kate um kurz nach zehn und heute Nachmittag noch ein Neuer. Ich hätte ihn genommen, aber–"

„Schon gut", antworte ich müde. „Ich mach das. Was hat er?"
„Hat er nicht gesagt, nur ein Rezept für fünf Mal."
„Okay, ruf mich, wenn Kate da ist", sage ich und gehe in den Abstellraum, wo wir die Handtücher waschen und aufbewahren. Ich fülle die Waschmaschine mit benutzten Handtüchern, schalte sie ein und setze mich daneben.

Ich weiß, Val macht sich Sorgen. Alle machen sich Sorgen. Und ich mir auch ein wenig. Aber ich kann nichts dagegen tun. Ich bin wie gefangen in mir selbst. Ich vermisse Mason, doch ich bin ebenso wütend auf ihn. Ich weiß, er will mit mir reden, dass ich ihm fehle und das macht den Schmerz in mir noch unerträglicher, denn ich habe Angst. Angst, dass er mir wieder mein Herz bricht. Angst, dass es nie wieder so wird wie zuvor. Und am meisten habe ich Angst davor, dass ich dieses Mal alles zerstört habe, weil ich so wütend bin und so gemein war.

•••

Val verabschiedet sich nach ihrem letzten Termin und lässt mich allein in der Praxis. Ich weiß, ich bin ein schrecklicher Freund, weil ich nicht einmal gefragt habe, warum sie weg muss. Ich gehe wieder in den Abstellraum und setze mich neben das Regal mit den Handtüchern. Wenn der neue Patient reinkommt, werde ich es schon hören.

Also sitze ich da und starre vor mich hin. Frage mich, ob es irgendwann besser wird. Wann meine Freunde mir den Rücken zukehren, weil ihnen mein Verhalten zu dumm wird. Wann Mason mit den Zetteln und dem Kaffee aufhört. Ähnlich wie Aidan sollte er einfach aufgeben.

Ein hölzernes Klirren aus dem Eingangsbereich lässt mich hochschrecken. Ich habe die Tür gar nicht gehört und der neue Patient macht sich wohl an dem Tisch mit den Puzzeln zu schaffen. Langsam stehe ich auf und gehe nach vorn.

Es trifft mich wie ein Déjà-vu. Schwarze, wuschelige Haare. Lange, unbeholfene Finger, die verzweifelt versuchen, den zerlegten Würfel wieder zusammenzusetzen.

Anders als beim ersten Mal bleibe ich mit verschränkten Armen im Türrahmen stehen und starre ihn an. Verlegen sieht er auf und lächelt schief. „Sorry, ich wollte ihn nicht kaputtmachen", sagt er leise.
„Hast du aber", antworte ich kühl und möchte mich selbst anschreien, weil ich schon wieder so bin.

Masons Lächeln erstirbt und er flüstert: „Mir hat mal jemand gesagt, man kann ihn wieder zusammensetzen."
Ich beiße mir schmerzhaft auf meine zitternde Unterlippe und bohre meine Fingernägel in die Haut an meinem Oberarm. „Ich fürchte, er ist irreparabel zerstört", ist alles, was ich sagen kann.

Mason nickt und ich meine, Tränen in seinen Augen schimmern zu sehen. Seine Hand fährt verlegen durch sein Haar und er murmelt: „Das ist meine Schuld. Ich ... ich hab nicht erkannt, wie wertvoll er ist."

Eine einzelne Träne läuft über meine Wange nach unten zu meinem Kinn und ich starre auf die verdammten Würfelteile auf dem kleinen Tisch. Reden wir überhaupt noch über den Würfel?

Langsam greifen seine Finger nach den einzelnen Teilen und versuchen erneut, das Puzzle zusammenzufügen.
„Es ist hoffnungslos", bringe ich erstickt hervor und Mason schüttelt bockig seinen Kopf. Ich erkenne, dass auch seine Wangen nun ganz feucht sind, doch noch immer hält er die Teile aneinander, nimmt weitere dazu. „Ich gebe die Hoffnung nicht auf", sagt er heiser. „Er ist mir zu wichtig, als dass ich ihn so zerstört zurücklasse."

„Und was ist, wenn du es schaffst ihn wieder zusammenzusetzen?", frage ich kaum hörbar. „Gehst du dann wieder?"
„Niemals", erwidert er entschlossen und nimmt ein weiteres Teil. „Ich behalte ihn. Egal ob er ganz ist oder kaputt. Das macht für mich keinen Unterschied. Ich kann ihn nicht zurücklassen."

Und dann setzen seine Finger tatsächlich das letzte Teil an den Würfel und vervollständigen ihn wieder. Mit roten, feuchten Augen blinzelt er mich an und ich schluchze einmal laut auf.

Mason kommt langsam zu mir und ich lasse es zu. Ich lasse es zu, dass er seine Arme um mich legt, lasse es zu, dass er weinend meine Stirn küsst und ich lasse es zu, dass er mir wieder und wieder sagt, wie sehr er mich liebt und wie leid ihm alles tut.

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