1 Monat und 7 Stunden später

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„André, wo willst du hin?" Mason kommt langsam auf mich zu.
„Weg", presse ich hervor. „Weit weg von hier."
Ich drehe mich um und beginne zu laufen. Die Jeans scheuert und ich merke schon jetzt, dass ich morgen Blasen an den Füßen haben werde, aber ich kann nicht hier bleiben.

Die Kirchenglocken der Gemeinde läuten und signalisieren, dass es Mitternacht ist. Welche Ironie, dass ich gerade mit drückenden Schuhen vor Mason davonlaufe wie Aschenputtel vor dem Prinzen.

Mein Kopf dreht vollkommen durch und ich bemühe mich, nur auf meine schmerzenden Zehen zu achten. Doch der Schmerz ist nicht stark genug, schafft es nicht, den Schmerz in meiner Brust zu überdecken.

Was will er hier? Warum hat Val ihm überhaupt die Einladung geschickt? Zeigt er sich nur als Kunde? Weiß er nicht, wie sehr mich das verletzt?

„André, bitte warte doch", keucht er atemlos hinter mir und als ich mich umdrehe, sehe ich, dass er mir allen Ernstes nachläuft. Sein Jackett weht hinter ihm wie in einem kitschigen Film.

Doch wir sind in keinem kitschigen Film. Wäre es einer, hätte er mich mit ihm reden lassen. Er wäre nicht einfach wortlos gegangen und hätte mich nicht so einfach aus seinem Leben gestrichen.

Abrupt bleibe ich stehen, denn war ich die vergangenen Wochen einfach nur tieftraurig, so bin ich nun zum ersten Mal wütend.
Und es tut so unglaublich gut, endlich etwas anderes zu fühlen. Meine Hände sind zu Fäusten geballt und zittern an meinen Seiten, während ich versuche, wieder zu Atem zu kommen.

Mason bleibt überrascht stehen und schnappt nach Luft. Seine Hand greift an seine Brust, als er versucht, seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen.
„Verpiss dich!", fauche ich und bin selbst erschrocken über die Kälte in meinem Tonfall.
Masons Augen weiten sich überrascht und er hält beschwichtigend seine Hände vor sich. „Können wir bitte reden?"

Ich lache bitter auf. Die Tränen brennen hinter meinen Augen und ich weiche seinem flehenden Blick aus. „Nein, Mason", sage ich gleichgültig. „Können wir nicht. Du hast alles gesagt."

„Nein, André", entgegnet er verzweifelt. „Habe ich nicht. Ich ... bitte ... du fehlst mir."

Wieder ein ekelhaftes Lachen von mir und ich hasse mich selbst dafür. So bin ich nicht. Doch gerade kann ich nicht anders. Der letzte Stein der Mauer um mein Herz hat sich gerade eingefügt und ich werde nicht zulassen, dass er sie einreißt, um mich wieder zu zerstören. Nicht noch einmal.

„Ist das so?" Ich hasse es, wie der Zynismus wie Gift aus meiner Stimme tropft. „Was genau fehlt dir? Die heimlichen Treffen bei dir oder bei mir? Oder doch lieber in der Praxis? Oder sollen wir uns vielleicht ein Stundenhotel mieten am anderen Ende der Stadt? Nicht, dass jemand sieht, wie du es dir von einem Mann besorgen lässt."

Entsetzt blickt er mich an und auf einmal tun mir meine Worte leid. Ich bin kein gemeiner Mensch. Ich mag es nicht, andere zu verletzen. Und letzten Endes ist es doch auch egal. Was bringt es mir, ihm wehzutun? Mein Schmerz wird dadurch nicht weniger.

Ich seufze und winke ab, als ich mich müde von ihm abwende. „Geh einfach, Mason." Ich kann nicht mehr laufen, gerade einmal gehen. Ich bin einfach nur müde. Schwach, müde und kraftlos.
Die Wut hat alle Kraft in mir wie ein Fegefeuer in Asche verwandelt und jetzt bin ich nur noch leer.

„Ich habe es ihr gesagt", ruft er mir nach und ich lasse resigniert meinen Kopf hängen.
„Nein", sage ich, ohne mich noch einmal umzudrehen. „Ich habe es ihr gesagt, wenn auch unbeabsichtigt. Du hattest es nie vor."

Rückblende | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt